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Wednesday, October 24, 2007
Thor Kunkel: "Endstufe"
Gut drei Jahre hats gedauert, bis ich es geschafft habe, meine
Rückstände so weit auf zu arbeiten, dass ich endlich zu diesem Roman
gelangt bin, woran ausser David Mitchell, Joanne K. Rowling und einigen anderen
Schriftstellern nicht zuletzt Thomas Pynchons "Against The Day" Schuld ist.
Aber das passt schon. Denn Thor Kunkels "Endstufe", 2004 nach einem
literarischen Skandal bei Eichborn (anstatt bei Rowohlt) auf den Markt
gekommen, würde es wohl
so, wie er jetzt vorliegt,
nicht gegeben haben, wenn Kunkel zuvor nicht den Meister selbst, und da
natürlich
"Die Enden der Parabel"
,
gelesen hätte.
Aber ich bekenne, nach gut einem Drittel der Lektüre des Romans, dass ich
beeindruckt bin. Und ich bin nicht zum ersten Mal beeindruckt von Kunkel. Sein
"Ein Brief an Hanny Porter" (und nicht "Brief an Harry Potter", wie der DLF
hier
schreibt!) habe ich als Hörspiel gehört und war begeistert. Der Mann
hat Witz und deshalb warte ich gespannt auf sein "SchwarzlichtTerrarium",
um mich, wenn er vielleicht einmal meine eigene
peer group
aufs Korn nimmt, vielleicht auch einmal über ihn zu ärgern.
Zurück zu "Endstufe": der Roman machte eine gewisse Furore dadurch,
dass sich RowohltChef Alexander Fest recht kurzfristig entschlossen
hatte, den Roman nun doch nicht zu verlegen. Zur Begründung legte er, wie
Hubert Spiegel in der
FAZ vom 10.02.2004
feststellt, dem Autor, in völliger Ignoranz und Verkennung der
Fiktionalität (so meine Ansicht), einige Aussagen von Romanfiguren in den
Mund, dazu noch solche, die gar nicht in dem fertigen Manuskript standen,
sondern vom Autor verworfen worden waren, peinlich, peinlich.
Vorher (wovor eigentlich?) hatte Rowohlt folgendermassen für das Buch
geworben:
"In seinem packenden, minutiös recherchierten Porträt der morbiden
NaziGesellschaft vernetzt der Autor Geschichte und Sexualität,
Wissenschaft und Okkultismus und schildert den Untergang des ,Dritten Reiches'
als furioses Ende der ,technisch überlegenen' Welt von einst."
Dann hiess es:
"In der letzten Phase der Lektoratsarbeit an dem Roman ,Endstufe' haben der
Autor Thor Kunkel und der Verlag in einigen inhaltlichen und ästhetischen
Fragen keine Einigung erzielen können und beschlossen, das
Vertragsverhältnis aufzulösen."
Ich verstehe sicherlich nicht viel vom Lektoratsgeschäft, aber wenn ich
Schriftsteller wäre und mein Verlag wollte mir in der "letzten Phase der
Lektoratsarbeit" inhaltlich und ästhetisch in mein Buch reinreden,
würde ich auch gehen. Anstatt es dem Leser und den Rezensenten zu
überlassen, über das Werk zu urteilen, maßt sich der
selbsternannte Zensor Fest an, darüber zu befinden, was das Publikum lesen
darf oder nicht...
Es gibt eine interessante Webseite auf Thor Kunkels eigener Webpräsenz
www.thorkunkel.com,
wo, natürlich eher aus seiner Perspektive, die ganze Geschichte des
Skandals erzählt wird, und hier erfährt man den wahren Grund für
das Zerwürfnis zwischen Autor und Verlag, so man den Aussagen denn glauben
darf. Da die entsprechende Seite aber schon eine Weile im Netz steht und ich
auch kein Verlangen des RowohltVerlages nach einer Gegendarstellung
gelesen habe, kann man wohl davon ausgehen, dass die Sache stimmt:
"Der Bruch zwischen Rowohlt und Kunkel hatte sich nicht wie der Verlag
vorgab aufgrund "unüberbrückbarer ästhetischer
Differenzen" vollzogen, sondern wegen eines moralischen Dilemmas, das zwischen
dem Autor und der Lektorin Ulrike Schieder entstand. Die
politischkorrekte Lektorin forderte die millionenfache Vergewaltigung
deutscher Frauen durch Rotarmisten im Mai 1945 dürfe im
Roman nicht aus einer Perspektive geschildert werden, die Mitleid mit den
Frauen der Nazis erwecken könne. Es ging de facto um die Streichung
nur weniger Sätze. Schieder regte an, Kunkel solle schreiben, daß
die Vergewaltiger ihren Opfern auch "Essen mitbrachten oder nett zu den Kindern
waren".
Zudem wird hier auf einen anderen Artikel im Hamburger Abendblatt vom 10. April
2004
verwiesen, wo Barbara Möller die Hintergründe des Skandals
erhellt. Dort lese ich zwar nichts von Essen und Kindern, aber immerhin dies:
"Schieder schrieb Kunkel am 28. 12. 2003 einen Brief, in dem es hieß: "Ich
hatte . . . ein ungutes Gefühl, dass du die Alliierten zu negativ
zeichnest (schließlich waren die Deutschen dagegen Bestien). Bitte
überprüf das noch mal. Irgendwas Positives (statt Versautes, Brutales
etc.) würde das Ganze unparteiischer, glaubwürdiger machen."
Warum die Vergewaltigung einer Frau durch einen Soldaten in einem literarischen
Werk nicht aus einer Perspektive erzählt werden darf, die "Mitleid
(
) erwecken könne", erschließt sich mir hingegen nicht
unmittelbar. Schließlich bleibt eine Vergewaltigung ein Verbrechen, egal,
welcher Nationalität das Opfer angehört oder unter welchen speziellen
historischen Umständen, hier das Ende des Vernichtungskrieges der Nazis im
Mai 1945, sie begangen wird.
Und es ist völliger Unsinn, von einem Romanschriftsteller, zudem einem
postmodernen, Neutralität und Glaubwürdigkeit zu erwarten. Das sind
Eigenschaften, wie ich sie mir vermehrt bei Journalisten generell wünschen
würde, nicht aber bei einem Dichter oder Geschichtenerzähler.
Eine weitere Facette des Skandals ist der SPIEGELArtikel von Henryk M.
Broder vom 20.04.2004, der natürlich so einfach nicht mehr nachzulesen
ist, weil der SPIEGEL kein kostenfreies Archiv anbietet. Alexander Fest hatte
Broder einige Passagen aus der inzwischen von Kunkel längst gestrichenen
Rahmenhandlung des Romans gezeigt, ein Vorgang, der wohl nicht nur nach Barbara
Möllers Ansicht "in der deutschen Verlagsgeschichte wohl einmalig" ist:
"Broder zitierte daraus im "Spiegel": "Wie oft hat Deutschland schon der
Verbrechen des Nationalsozialismus gedacht? Es macht nicht den Anschein, als
hätten die Juden vor zu vergeben." Den Deutschen sei nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges "eine gesalzene Gasrechnung präsentiert" worden. Und
Broder zitierte Fest mit den Worten, Kunkel sei "ein Rasender", "die
Wiedergeburt Parzifals als rechter Schläger".
ibid
Zum Glück hat Kunkel mit Eichborn einen anderen Verlag gefunden, der das
Buch auf den Markt gebracht hat. Dennoch, entsprechend dieser "Vorgaben" fielen
natürlich die Rezensionen aus. Iris Radisch in der ZEIT,
Robin Detje in der Süddeutschen Zeitung
und auch die FAZ beeilten sich, ihren Abscheu vor diesem Buch
auszudrücken. Wenn z.B. Frau Radisch schreibt,
"Erstens ist dieses Buch eine flott geschriebene Geschmacklosigkeit, zweitens
ist es eine dauererigierte Männerfantasie, drittens ist es (um nur nicht
falsch verstanden zu werden, muss gesagt sein: leider!) absolute Spitze. Es ist
ganz oben, vielleicht noch nicht auf den Bestsellerlisten, aber ganz oben auf
den Wellen des Zeitgeistes. Es ist, was es mit Fleiß, Kalkül und
Skrupellosigkeit unbedingt sein will: die Avantgarde des biotechnischen
Zeitalters."
so will ich ihr in Bezug auf die ersten beiden "Vorwürfe" gar nicht einmal
widersprechen. Oder nur insoweit, dass ich gegen eine geschmacklose,
dauereregierte Männerfantasie nichts habe, solange sie nur "flott"
geschrieben, unterhaltsam und witzig ist. Aber das ist halt Geschmacksache
und Kunkels Roman muss ja nicht unbedingt jedem, oder besser,
jeder,
gefallen.
Wo ich ihr aber wirklich widerspreche, ist bei ihrem vorgezogenen Fazit, dass
das Buch (oder vielleicht doch besser sein Autor, nicht wahr?) anstrebe, an der
Spitze eines Zeitgeistes zu stehen, den Frau Radisch als "Avantgarde des
biotechnischen Zeitalters" bezeichnet, ohne zu sehen, dass der Roman mit seinen
Übertreibungen und Überzeichnungen genau diesen Zeitgeist kritisiert.
Für mich, als Pynchonerprobten Leser, hätte sich Kunkel nicht
so erklären müssen:
"Meine eigentliche Kritik richtet sich gegen die industrielle Weltanschauung
der Nazis und die damit verbundene Rechenpolitik, in der Menschen zu
Rohstoff-Massen degradiert werden. Ich habe es immer schon als eine Zumutung
empfunden auf einem von Geld und Macht überwölbten Planeten zu leben."
Dass Kunkel keinen historischen Roman geschrieben hat, sondern auf unsere Zeit
zielt, wird schon aus dem Prolog (weil es um Filme geht, bei Kunkel "Vorspann")
deutlich, in dem der LebensbornGynäkologe Waldemar Pfister unter dem
Einfluß lybischen Opiums eine Vision hat, in der er ein Berlin erblickt,
dass der multikulturellen Realität unserer Tage entspricht, nicht aber der
Vorstellung, die ein Nazi von der Zeit nach dem "Endsieg" gehabt haben
dürfte:
"Ich sah mich über den Kudamm spazieren (
) nichts Besonderes
auf den ersten Blick, aber die Stadt hatte sich merkwürdig verändert.
Ich weiß nicht, was es war, die brausende Armut auf den
Bürgersteigen, die synthetischen Pauken aus vorbeifahrenden Blechkisten,
darin feixende Visagen, junges, aufgekratztes Mischlingspack. Ringsum ein
einziger Basar. Von überall her flogen mir die Schleuderpreise ins Auge,
als ob die Welt zu ihrer Verramschung aufrufen würde."
Kunkel ist mit Michel Houellebecq verglichen worden, und die Vorstellung, die
dessen Erzähler in "Plattform" (2001) von unserem Gesellschaftssystem
entwickelt, ist der Pfisters, der als berufsbedingter Sexist nur diese
Dimension seiner OpiumVision erkennen kann, gar nicht einmal so
unähnlich. Kritisiert worden ist Kunkel vor allem dafür, dass sein
Buch die Nazis angeblich "schönreden" würde, obwohl ihm nichts ferner
liegen dürfte. Begründet wird das damit, dass seine Kritik nicht auf
die Nazis beschränkt ist, sondern die Sieger mit einbezieht. Aber schon
Pynchon nennt diese eine "Sukzession gemeingefährlicher Irrer", daran ist
also nichts ehrenrührig, auch, wenn es aus deutscher Feder stammt.
Ferner hält man ihm entgegen, dass er den Holocaust in seinem Buch
außen vor lässt, als ob wir uns nicht längst darauf geeinigt
hätten, dass dieser ungeheure, singuläre geschichtliche Vorgang, der
mit keinem Völkermord, wie er zuvor oder seither stattgefunden hat,
verglichen werden kann, nicht angemessen künstlerisch dargestellt werden
kann:
"Während Hiroshima und der Bombenkrieg gegen Deutschland in grellen Farben
ausgemalt werden, kommen die Vernichtungslager mit keinem Wort vor."
Und wie schon in der Überschrift gesagt wird,
darf
der Roman nicht gefallen, ist Gefallen daran politisch nicht korrekt. Dabei
zeigt Kunkel durchaus auf, was tatsächlich 1941 in Deutschland in gewissen
Kreisen eine weit verbreitete Meinung war:
"Schon nach der Kapitulation Polens bemängelten viele die »fehlende
Spannung«. Der Dienst an der Waffe war dennoch verpönt, die
Verfolgung der Juden hielt man zwar für einen Skandal, aber als Thema
restlos
passé.
Während Kunkel den verbreiteten Uniformwahn im III. Reich thematisiert, so
reagiert der Rezensent mit einem lakonischen:
"Damals in den "Roaring Forties" konnte man scheinbar allein mit einer
schwarzen Uniform die Frauen um den Finger wickeln: "Das holde Blond bevorzugt
den schwarzen Ritter", wie der Personalchef des SS-HygieneInstituts
feststellt (
) Ach, SSMann müßte man gewesen sein?"
Dabei offenbart der Rezensent nur seine mangelnden historischen Kenntnisse,
denn natürlich war es 1941 so, dass Uniformträger bei den jungen
Damen "in" waren. So absurd die Geschichte, die der Roman erzählt, an sich
auch ist, Kunkels Recherchen über das III. Reich und insbesondere die
kleine Schicht der Kriegsgewinnler, die von den üblichen kriegsbedingten
Härten nicht so betroffen waren wie der gewöhnliche Arbeiter, Soldat,
die Hausfrau oder Mutter, sind es nicht.
Überhaupt, diese Recherchen! Kunkel präsentiert uns die Naziära
in ihrer ganzen Scheußlichkeit, ohne auf die langweilige Frage, wer etwas
vom Holocaust gewußt hat oder nicht (als ob wir darauf jemals eine
historisch korrekte Antwort erhalten könnten), eingehen zu müssen,
weil seine Figuren einer Schicht angehören, die den Krieg, die Tyrannei
der Nazis und die Judenverfolgung größtenteils ignorieren, aber
die bestehenden Verhältnisse gewissenlos zu ihrem eigenen Vorteil
ausnützen. Diese Innensicht ist wertvoll und Kunkel gelingt es, mit Hilfe
der
recherchierten historischen Fakten und seiner Figuren ein abstossendes Weltbild
aufzuzeigen, das auch ohne den Holocaust bereits abstossend genug war, und das
auch mit der Befreiung der letzten AuschwitzÜberlebenden durch die
Rote Armee nicht von dieser Welt verschwunden ist.
Überhaupt, diese Figuren! Ich bin mir sicher, keiner der Rezensenten hat
sich die Mühe gemacht, einmal nachzusehen, was das große
"KantoErdbeben" von 1923, währenddessen Lotte, die weibliche
Hauptfigur in Kunkels Roman, auf der anderen Seite der Welt im Hamburg zur Welt
gekommen war, für die japanische Gesellschaft bedeutet hat. Es war ein
Ereignis, das dazu beitrug, dass sich die japanische Gesellschaft weiter in die
katastrophale Richtung von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus
und Krieg bewegte, die auch in Deutschland zu jener Zeit auf dem Vormarsch war.
Das einleitende Zitat des Kapitels, in dem die Vergangenheit Lottes
erzählt wird, enthüllt Kunkels Quelle für seine Figur. Es ist
die zitierte "Madame Claude", eine ebenfalls 1923 geborene französische
Edelhure, die es sogar zu einem französischen
WikipediaEintrag
geschafft hat, weil höchste politische und kriminelle Kreise zu ihrer
Kundschaft gehörten. Nach dieser realen Person hat Kunkel seine Lotte,
eine Hure und überzeugte Nationalsozialistin, gestaltet:
"Die Leute werden immer für zwei Sachen bezahlen Essen und Sex.
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