Ottos Weblog Oktober 2007

Index
2004: Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember
2005: Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember
2006: Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember
2007: Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember

Wednesday, 24


Wednesday, October 24, 2007

Thor Kunkel: "Endstufe"

Gut drei Jahre hat’s gedauert, bis ich es geschafft habe, meine Rückstände so weit auf zu arbeiten, dass ich endlich zu diesem Roman gelangt bin, woran ausser David Mitchell, Joanne K. Rowling und einigen anderen Schriftstellern nicht zuletzt Thomas Pynchons "Against The Day" Schuld ist. Aber das passt schon. Denn Thor Kunkels "Endstufe", 2004 nach einem literarischen Skandal bei Eichborn (anstatt bei Rowohlt) auf den Markt gekommen, würde es wohl so, wie er jetzt vorliegt, nicht gegeben haben, wenn Kunkel zuvor nicht den Meister selbst, und da natürlich "Die Enden der Parabel" , gelesen hätte.

Aber ich bekenne, nach gut einem Drittel der Lektüre des Romans, dass ich beeindruckt bin. Und ich bin nicht zum ersten Mal beeindruckt von Kunkel. Sein "Ein Brief an Hanny Porter" (und nicht "Brief an Harry Potter", wie der DLF hier schreibt!) habe ich als Hörspiel gehört und war begeistert. Der Mann hat Witz und deshalb warte ich gespannt auf sein "Schwarzlicht–Terrarium", um mich, wenn er vielleicht einmal meine eigene peer group aufs Korn nimmt, vielleicht auch einmal über ihn zu ärgern.

Zurück zu "Endstufe": der Roman machte eine gewisse Furore dadurch, dass sich Rowohlt–Chef Alexander Fest recht kurzfristig entschlossen hatte, den Roman nun doch nicht zu verlegen. Zur Begründung legte er, wie Hubert Spiegel in der FAZ vom 10.02.2004 feststellt, dem Autor, in völliger Ignoranz und Verkennung der Fiktionalität (so meine Ansicht), einige Aussagen von Romanfiguren in den Mund, dazu noch solche, die gar nicht in dem fertigen Manuskript standen, sondern vom Autor verworfen worden waren, peinlich, peinlich.

Vorher (wovor eigentlich?) hatte Rowohlt folgendermassen für das Buch geworben:

"In seinem packenden, minutiös recherchierten Porträt der morbiden NaziGesellschaft vernetzt der Autor Geschichte und Sexualität, Wissenschaft und Okkultismus und schildert den Untergang des ,Dritten Reiches' als furioses Ende der ,technisch überlegenen' Welt von einst." Volker Weidermann, "NS-Pornographie–Die Nackten und die Toten", FAZ, 02. Februar 2004

Dann hiess es:

"In der letzten Phase der Lektoratsarbeit an dem Roman ,Endstufe' haben der Autor Thor Kunkel und der Verlag in einigen inhaltlichen und ästhetischen Fragen keine Einigung erzielen können und beschlossen, das Vertragsverhältnis aufzulösen." ibid

Ich verstehe sicherlich nicht viel vom Lektoratsgeschäft, aber wenn ich Schriftsteller wäre und mein Verlag wollte mir in der "letzten Phase der Lektoratsarbeit" inhaltlich und ästhetisch in mein Buch reinreden, würde ich auch gehen. Anstatt es dem Leser und den Rezensenten zu überlassen, über das Werk zu urteilen, maßt sich der selbsternannte Zensor Fest an, darüber zu befinden, was das Publikum lesen darf oder nicht...

Es gibt eine interessante Webseite auf Thor Kunkels eigener Webpräsenz www.thorkunkel.com, wo, natürlich eher aus seiner Perspektive, die ganze Geschichte des Skandals erzählt wird, und hier erfährt man den wahren Grund für das Zerwürfnis zwischen Autor und Verlag, so man den Aussagen denn glauben darf. Da die entsprechende Seite aber schon eine Weile im Netz steht und ich auch kein Verlangen des Rowohlt–Verlages nach einer Gegendarstellung gelesen habe, kann man wohl davon ausgehen, dass die Sache stimmt:

"Der Bruch zwischen Rowohlt und Kunkel hatte sich nicht — wie der Verlag vorgab — aufgrund "unüberbrückbarer ästhetischer Differenzen" vollzogen, sondern wegen eines moralischen Dilemmas, das zwischen dem Autor und der Lektorin Ulrike Schieder entstand. Die politisch–korrekte Lektorin forderte die millionenfache Vergewaltigung deutscher Frauen durch Rotarmisten — im Mai 1945 — dürfe im Roman nicht aus “einer Perspektive geschildert werden, die Mitleid mit den Frauen der Nazis erwecken könne”. Es ging de facto um die Streichung nur weniger Sätze. Schieder regte an, Kunkel solle schreiben, daß die Vergewaltiger ihren Opfern auch "Essen mitbrachten oder nett zu den Kindern waren". Die Causa Kunkel

Zudem wird hier auf einen anderen Artikel im Hamburger Abendblatt vom 10. April 2004 verwiesen, wo Barbara Möller die Hintergründe des Skandals erhellt. Dort lese ich zwar nichts von Essen und Kindern, aber immerhin dies:

"Schieder schrieb Kunkel am 28. 12. 2003 einen Brief, in dem es hieß: "Ich hatte . . . ein ungutes Gefühl, dass du die Alliierten zu negativ zeichnest (schließlich waren die Deutschen dagegen Bestien). Bitte überprüf das noch mal. Irgendwas Positives (statt Versautes, Brutales etc.) würde das Ganze unparteiischer, glaubwürdiger machen." Barbara Möller, "Hintergründe eines Buchskandals"

Warum die Vergewaltigung einer Frau durch einen Soldaten in einem literarischen Werk nicht aus einer Perspektive erzählt werden darf, die "Mitleid (…) erwecken könne", erschließt sich mir hingegen nicht unmittelbar. Schließlich bleibt eine Vergewaltigung ein Verbrechen, egal, welcher Nationalität das Opfer angehört oder unter welchen speziellen historischen Umständen, hier das Ende des Vernichtungskrieges der Nazis im Mai 1945, sie begangen wird.

Und es ist völliger Unsinn, von einem Romanschriftsteller, zudem einem postmodernen, Neutralität und Glaubwürdigkeit zu erwarten. Das sind Eigenschaften, wie ich sie mir vermehrt bei Journalisten generell wünschen würde, nicht aber bei einem Dichter oder Geschichtenerzähler.

Eine weitere Facette des Skandals ist der SPIEGEL–Artikel von Henryk M. Broder vom 20.04.2004, der natürlich so einfach nicht mehr nachzulesen ist, weil der SPIEGEL kein kostenfreies Archiv anbietet. Alexander Fest hatte Broder einige Passagen aus der inzwischen von Kunkel längst gestrichenen Rahmenhandlung des Romans gezeigt, ein Vorgang, der wohl nicht nur nach Barbara Möllers Ansicht "in der deutschen Verlagsgeschichte wohl einmalig" ist:

"Broder zitierte daraus im "Spiegel": "Wie oft hat Deutschland schon der Verbrechen des Nationalsozialismus gedacht? Es macht nicht den Anschein, als hätten die Juden vor zu vergeben." Den Deutschen sei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges "eine gesalzene Gasrechnung präsentiert" worden. Und Broder zitierte Fest mit den Worten, Kunkel sei "ein Rasender", "die Wiedergeburt Parzifals als rechter Schläger". ibid

Zum Glück hat Kunkel mit Eichborn einen anderen Verlag gefunden, der das Buch auf den Markt gebracht hat. Dennoch, entsprechend dieser "Vorgaben" fielen natürlich die Rezensionen aus. Iris Radisch in der ZEIT, Robin Detje in der Süddeutschen Zeitung und auch die FAZ beeilten sich, ihren Abscheu vor diesem Buch auszudrücken. Wenn z.B. Frau Radisch schreibt,

"Erstens ist dieses Buch eine flott geschriebene Geschmacklosigkeit, zweitens ist es eine dauererigierte Männerfantasie, drittens ist es (um nur nicht falsch verstanden zu werden, muss gesagt sein: leider!) absolute Spitze. Es ist ganz oben, vielleicht noch nicht auf den Bestsellerlisten, aber ganz oben auf den Wellen des Zeitgeistes. Es ist, was es mit Fleiß, Kalkül und Skrupellosigkeit unbedingt sein will: die Avantgarde des biotechnischen Zeitalters." Iris Radisch, "Ach, du Eisen–Pimmel", DIE ZEIT, 15.04.2004

so will ich ihr in Bezug auf die ersten beiden "Vorwürfe" gar nicht einmal widersprechen. Oder nur insoweit, dass ich gegen eine geschmacklose, dauereregierte Männerfantasie nichts habe, solange sie nur "flott" geschrieben, unterhaltsam und witzig ist. Aber das ist halt Geschmacksache und Kunkels Roman muss ja nicht unbedingt jedem, oder besser, jeder, gefallen.

Wo ich ihr aber wirklich widerspreche, ist bei ihrem vorgezogenen Fazit, dass das Buch (oder vielleicht doch besser sein Autor, nicht wahr?) anstrebe, an der Spitze eines Zeitgeistes zu stehen, den Frau Radisch als "Avantgarde des biotechnischen Zeitalters" bezeichnet, ohne zu sehen, dass der Roman mit seinen Übertreibungen und Überzeichnungen genau diesen Zeitgeist kritisiert. Für mich, als Pynchon–erprobten Leser, hätte sich Kunkel nicht so erklären müssen:

"Meine eigentliche Kritik richtet sich gegen die industrielle Weltanschauung der Nazis und die damit verbundene Rechenpolitik, in der Menschen zu Rohstoff-Massen degradiert werden. Ich habe es immer schon als eine Zumutung empfunden auf einem von Geld und Macht überwölbten Planeten zu leben."

Dass Kunkel keinen historischen Roman geschrieben hat, sondern auf unsere Zeit zielt, wird schon aus dem Prolog (weil es um Filme geht, bei Kunkel "Vorspann") deutlich, in dem der Lebensborn–Gynäkologe Waldemar Pfister unter dem Einfluß lybischen Opiums eine Vision hat, in der er ein Berlin erblickt, dass der multikulturellen Realität unserer Tage entspricht, nicht aber der Vorstellung, die ein Nazi von der Zeit nach dem "Endsieg" gehabt haben dürfte:

"Ich sah mich über den Ku’damm spazieren (…) nichts Besonderes auf den ersten Blick, aber die Stadt hatte sich merkwürdig verändert. Ich weiß nicht, was es war, die brausende Armut auf den Bürgersteigen, die synthetischen Pauken aus vorbeifahrenden Blechkisten, darin feixende Visagen, junges, aufgekratztes Mischlingspack. Ringsum ein einziger Basar. Von überall her flogen mir die Schleuderpreise ins Auge, als ob die Welt zu ihrer Verramschung aufrufen würde."
(Thor Kunkel, "Endstufe", Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 9)

Kunkel ist mit Michel Houellebecq verglichen worden, und die Vorstellung, die dessen Erzähler in "Plattform" (2001) von unserem Gesellschaftssystem entwickelt, ist der Pfisters, der als berufsbedingter Sexist nur diese Dimension seiner Opium–Vision erkennen kann, gar nicht einmal so unähnlich. Kritisiert worden ist Kunkel vor allem dafür, dass sein Buch die Nazis angeblich "schönreden" würde, obwohl ihm nichts ferner liegen dürfte. Begründet wird das damit, dass seine Kritik nicht auf die Nazis beschränkt ist, sondern die Sieger mit einbezieht. Aber schon Pynchon nennt diese eine "Sukzession gemeingefährlicher Irrer", daran ist also nichts ehrenrührig, auch, wenn es aus deutscher Feder stammt.

Ferner hält man ihm entgegen, dass er den Holocaust in seinem Buch außen vor lässt, als ob wir uns nicht längst darauf geeinigt hätten, dass dieser ungeheure, singuläre geschichtliche Vorgang, der mit keinem Völkermord, wie er zuvor oder seither stattgefunden hat, verglichen werden kann, nicht angemessen künstlerisch dargestellt werden kann:

"Während Hiroshima und der Bombenkrieg gegen Deutschland in grellen Farben ausgemalt werden, kommen die Vernichtungslager mit keinem Wort vor." "Ein Ekelreigen: Keine Geschmackssache: Thor Kunkels Roman "Endstufe"

Und wie schon in der Überschrift gesagt wird, darf der Roman nicht gefallen, ist Gefallen daran politisch nicht korrekt. Dabei zeigt Kunkel durchaus auf, was tatsächlich 1941 in Deutschland in gewissen Kreisen eine weit verbreitete Meinung war:

"Schon nach der Kapitulation Polens bemängelten viele die »fehlende Spannung«. Der Dienst an der Waffe war dennoch verpönt, die Verfolgung der Juden hielt man zwar für einen Skandal, aber als Thema restlos passé. (Kunkel, S. 81)

Während Kunkel den verbreiteten Uniformwahn im III. Reich thematisiert, so reagiert der Rezensent mit einem lakonischen:

"Damals in den "Roaring Forties" konnte man scheinbar allein mit einer schwarzen Uniform die Frauen um den Finger wickeln: "Das holde Blond bevorzugt den schwarzen Ritter", wie der Personalchef des SS-Hygiene–Instituts feststellt (…) Ach, SS–Mann müßte man gewesen sein?" Ein Ekelreigen...

Dabei offenbart der Rezensent nur seine mangelnden historischen Kenntnisse, denn natürlich war es 1941 so, dass Uniformträger bei den jungen Damen "in" waren. So absurd die Geschichte, die der Roman erzählt, an sich auch ist, Kunkels Recherchen über das III. Reich und insbesondere die kleine Schicht der Kriegsgewinnler, die von den üblichen kriegsbedingten Härten nicht so betroffen waren wie der gewöhnliche Arbeiter, Soldat, die Hausfrau oder Mutter, sind es nicht.

Überhaupt, diese Recherchen! Kunkel präsentiert uns die Naziära in ihrer ganzen Scheußlichkeit, ohne auf die langweilige Frage, wer etwas vom Holocaust gewußt hat oder nicht (als ob wir darauf jemals eine historisch korrekte Antwort erhalten könnten), eingehen zu müssen, weil seine Figuren einer Schicht angehören, die den Krieg, die Tyrannei der Nazis und die Judenverfolgung größtenteils ignorieren, aber die bestehenden Verhältnisse gewissenlos zu ihrem eigenen Vorteil ausnützen. Diese Innensicht ist wertvoll und Kunkel gelingt es, mit Hilfe der recherchierten historischen Fakten und seiner Figuren ein abstossendes Weltbild aufzuzeigen, das auch ohne den Holocaust bereits abstossend genug war, und das auch mit der Befreiung der letzten Auschwitz–Überlebenden durch die Rote Armee nicht von dieser Welt verschwunden ist.

Überhaupt, diese Figuren! Ich bin mir sicher, keiner der Rezensenten hat sich die Mühe gemacht, einmal nachzusehen, was das große "Kanto–Erdbeben" von 1923, währenddessen Lotte, die weibliche Hauptfigur in Kunkels Roman, auf der anderen Seite der Welt im Hamburg zur Welt gekommen war, für die japanische Gesellschaft bedeutet hat. Es war ein Ereignis, das dazu beitrug, dass sich die japanische Gesellschaft weiter in die katastrophale Richtung von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Krieg bewegte, die auch in Deutschland zu jener Zeit auf dem Vormarsch war.

Das einleitende Zitat des Kapitels, in dem die Vergangenheit Lottes erzählt wird, enthüllt Kunkels Quelle für seine Figur. Es ist die zitierte "Madame Claude", eine ebenfalls 1923 geborene französische Edelhure, die es sogar zu einem französischen Wikipedia–Eintrag geschafft hat, weil höchste politische und kriminelle Kreise zu ihrer Kundschaft gehörten. Nach dieser realen Person hat Kunkel seine Lotte, eine Hure und überzeugte Nationalsozialistin, gestaltet:

"Die Leute werden immer für zwei Sachen bezahlen — Essen und Sex.
Als Köchin war ich nicht zu gebrauchen."
Madame Claude, Wirtschafterin

(Kunkel, S. 254)

Search this site or the web powered by FreeFind

Site search Web search

Index Januar Februar März April Mai Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember

No Responsibility for Links
comments are appreciated
© Otto Sell Oktober 2007

Douglas Adams John Barth Samuel Beckett John Bunyan William Gaddis I. Jefremow Wassily Kandinsky Douglas K. Lannark Stanislaw Lem Bert Brecht: Laotse David Mitchell Vladimir Nabokov Victor Pelewin Thomas Pynchon Salman Rushdie J. D. Salinger Neal Stephenson Laurence Sterne Arkadi und Boris Strugatzki William Carlos Williams Ludwig Wittgenstein Frank Zappa

WebLinks: Astro–Literatur Comics Downloads Esoterics Galerie Die Genesis Haikus Homepages Humor Jump Literatur Links Lyrics The Magazine of Fantasy and Science Fiction Die Milchstrasse Musik Links News Oldenburg@OL Philosophie Playlist Poesie Postmodernism Rebeccas Seite Science Fiction Short Stories Space Space Links Suchmaschinen Zeitarchiv Zitate Impressum Home Mail Gästebuch Seitenanfang

WEBCounter by GOWEB
created with Arachnophilia

Miro Web look at The Wayback Machine for dead links Windows Commander monitored by