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Tuesday, March 01, 2005

Relativ widerlich

Unsere rechtskonservativen politischen Christen (CDU/CSU) legen sich ja mächtig ins Zeug, um der bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (allerdings wirklich) erfolglosen Rot–Grünen Koalition etwas am Zeug zu flicken. Die gleichen Politiker, die sich schon zu Zeiten der Regierung Kohl lediglich durch Nichtstun und Spendenaffären hervorgetan haben, blasen die sogenannte Visaaffäre wie einen Luftballon auf, um vielleicht doch irgendwie Joschka Fischer, den bis dato beliebtesten deutschen Politiker zu Fall zu bringen. Wenn man den Zeitraum betrachtet, in dem die ganze Geschichte stattgefunden hat, wird man feststellen, daß Joschka nach den 11. September 2001 nun wirklich andere Dinge um die Ohren hatte, als sich um Einreisevisa für irgendwelche Nutten zu kümmern. Fischer soll sich erklären, wenn möglich ohne vorheriges Aktenstudium, man nennt ihn von Seiten der CSU einen "Zuhälter" und macht ihn für irgendwelche Sexualverbrechen verantwortlich. Die politische Rechte — deren Klientel zugleich die Kundschaft jener Prostituierten darstellt — rast, wir aber warten immer noch auf die Namen der Spender, denen Ex–Kanzler Kohl sein Ehrenwort, das er über die diesem Land geleisteten Amtseide stellt, gegeben hat.

Dann ist da die Schleswig–Holstein–Wahl, die weder die Linke noch die Rechte gewinnen konnten und die daher vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW) entschieden wird, der nicht der 5%–Klausel unterliegt. Daß diese Vertretung der in Schleswig–Holstein lebenden Dänen nun die totale Machtübernahme der Rechten im Bundesrat vorerst verhindert, paßt der CDU/CSU überhaupt nicht. Also beginnt sie, Ausländerhaß zu sähen und die Minderheit dergestalt zu bedrohen, daß sie die besonderen Minderheitenrechte im nördlichsten Bundesland in Frage stellt. Daß sich ihr eigener Ole von Beust dereinst in Hamburg nicht zu schade war, sich von dem Rechtspopulisten Schill tolerieren zu lassen, um die SPD im Hamburg zu stürzen, haben sie vergessen. Das alles ist nicht einfach nur schlechter politischer Stil, das ist zum Kotzen!

Aber was soll man auch von einer Opposition erwarten, die es trotz ihrer starken Stellung im Bundesrat in sechs Jahren nicht ein einziges Mal geschafft hat, ein Konzept vorzulegen, das in irgendeiner Weise eine praktikable Alternative zur Regierungspolitik dargestellt hätte.

Friday, March 04, 2005

Als langjähriger Kritiker der israelischen Besatzungspolitik hat mich ein Kommentar gefreut, den Ken Livingstone, der Bürgermeister von London, heute im GUARDIAN veröffentlicht hat. Darin macht er klar, daß Kritik an den Aktionen der israelischen Regierung nicht automatisch etwas mit Antisemitismus zu tun hat, sondern richtig und wichtig ist. Im Gegensatz zu der Polemik, die jeden Kritiker einer israelischen Regierung zu einem Antisemiten stempeln will, betont Livingstone, daß es falsch und gefährlich wäre, zu den Ungerechtigkeiten zu schweigen, die Staatsterror, Besatzung, Siedlungen und illegale Annektionen darstellen. Und er nennt den israelischen Premierminister Sharon einen Kriegsverbrecher, der auf der Anklage– und nicht auf der Regierungsbank sitzen sollte:

The fundamental issue (…) is not anti–semitism — which my administration has fought tooth and nail — but the policies of successive Israeli governments. To avoid manufactured misunderstandings, the policies of Israeli governments are not analogous to Nazism. They do not aim at the systematic extermination of the Palestinian people, in the way Nazism sought the annihilation of the Jews. Israel’s expansion has included ethnic cleansing. Palestinians who had lived in that land for centuries were driven out by systematic violence and terror aimed at ethnically cleansing what became a large part of the Israeli state. The methods of groups like the Irgun and the Stern gang were the same as those of the Bosnian Serb leader Karadzic: to drive out people by terror. Today the Israeli government continues seizures of Palestinian land for settlements, military incursions into surrounding countries and denial of the right of Palestinians expelled by terror to return. Ariel Sharon, Israel’s prime minister, is a war criminal who should be in prison, not in office. Israel’s own Kahan commission found that Sharon shared responsibility for the Sabra and Shatila massacres. Sharon continues to organise terror. More than three times as many Palestinians as Israelis have been killed in the present conflict. There are more than 7,000 Palestinians in Israel’s jails. This is about Israel, not anti–semitism
Andererseits, wie schon Mr. Spock zu Captain Kirk in Das unentdeckte Land sagte, "nur Nixon konnte nach China gehen" — und so befürchte ich, daß auch nur ein harter Hund wie Sharon seine Landsleute dazu bewegen kann, einem Palästinenserstaat und damit dem Frieden zuzustimmen. Hinzu kommt, daß auch ein zum Ausgleich bereiter Palästinenserchef seine Radikalen nur in den Griff bekommt, wenn er darauf verweisen kann, daß seinem israelischen Gegenpart im Prinzip nichts an den Palästinensern liegt und daß es wahrscheinlich nur noch diese Chance gibt, einen eigenen Staat zu erhalten. Es wird niemals einen durch Terror erzwungenen Palästinensernstaat geben. Eher wird sich im Falle weitergehenden Terrors durch Hamas und andere Organisationen die westliche Welt zu der israelischen Sicht der Dinge durchringen, daß die Palästinenser als Araber 25 Staaten haben, in die sie gehen können, die Juden aber nur einen.

Monday, March 07, 2005

Der Beschuß der am letzten Freitag befreiten italienischen Journalistin Giuliana Sgrena durch US–Truppen ist schon ein ungeheuerlicher Vorgang, egal, ob es sich dabei um einen "Unfall" oder einen gezielten Anschlag gegen die Pressefreiheit gehandelt hat. So schreibt DIE ZEIT:

Giulina Sgrena widerspricht den Darstellungen der Amerikaner und schließt nicht aus, dass sie ermodert werden sollte. War es ein unglücklicher Zufall oder ein geplantes Attentat? Giuliana Sgrena hat inzwischen schwere Vorwürfe gegen die US-Armee erhoben. Der Beschuss ihres Konvois sei ein gezielter Hinterhalt der Amerikaner gewesen. Sgrena sagte im italienischen Fernsehsender, sie könne nicht ausschließen, Ziel des Angriffs gewesen zu sein. Die Entführer hätten sie vor der Freilassung vor den Amerikanern gewarnt; sie hätten dies mit den Worten begründet: „Weil die Amerikaner nicht wollen, dass du zurückkehrst.“ (…) Pier Scolari, der Lebensgefährte der Journalistin, bezichtigte die USA eines vorsätzlichen Tötungsversuchs: „Die amerikanischen Militärs wollten nicht, dass sie lebend da heraus kommt.“ Giuliana Sgrena habe Informationen, die für die US-Armee gefährlich werden könnten. — Tragischer Irrtum oder Hinterhalt?
Natürlich ist es zu früh, ein abschließendes Urteil zu fällen, aber es ist schon ziemlich unglaublich, daß es die italienischen Behörden versäumt haben sollten, das amerikanische Militär über die Befreiung zu informieren. Wenn hier nicht jemand ganz entsetzlich geschlampt hat, kann wohl der gegen die Amerikaner erhobene Vorwurf kaum ausgeräumt werden, so absurd diese Verschwörungstheorie im ersten Moment auch klingen mag. Falls es sich jedoch herausstellen sollte, daß die Befreier sich tatsächlich unangemeldet dem Kontrollpunkt mit hoher Geschwindigkeit genäher haben, so hätten sie unverantwortlich gehandelt und der heute als Held beerdigte Geheimdienstoffizier wäre selber Schuld gewesen. Man kann doch nicht eine solche Aktion starten, ohne zuvor die Besatzungsmacht im Lande zu informieren. Viele Italiener aber glauben nicht an ein reines Kommunikationsproblem.

CNN hat die Erklärung, die Sgrena gestern in ihrer eigenen Zeitung IL MANIFESTO veröffentlicht hat, übersetzt und veröffentlicht:

The car kept on the road, going under an underpass full of puddles and almost losing control to avoid them. We all incredibly laughed. It was liberating. Losing control of the car in a street full of water in Baghdad and maybe wind up in a bad car accident after all I had been through would really be a tale I would not be able to tell. Nicola Calipari sat next to me. The driver twice called the embassy and in Italy that we were heading towards the airport that I knew was heavily patrolled by U.S. troops. They told me that we were less than a kilometer away…when…I only remember fire. At that point, a rain of fire and bullets hit us, shutting up forever the cheerful voices of a few minutes earlier. The driver started yelling that we were Italians. "We are Italians, we are Italians." Nicola Calipari threw himself on me to protect me and immediately, I repeat, immediately I heard his last breath as he was dying on me. I must have felt physical pain. I didn’t know why. But then I realized my mind went immediately to the things the captors had told me. They declared that they were committed to the fullest to freeing me but I had to be careful, "the Americans don’t want you to go back." Then when they had told me I considered those words superfluous and ideological. At that moment they risked acquiring the flavor of the bitterest of truths, at this time I cannot tell you the rest. — 'My truth'
Der objektiv schlechte Zustand der Straße macht die zuerst erhobene Behauptung der US–Militärs, daß Fahrzeug der Befreier habe sich mit hoher Geschwindigkeit einem Kontrollpunkt genähert, von vorneherein unglaubwürdig. Ich hatte mich sowieso sofort gefragt, warum der Fahrer so kurz vor dem Ziel noch so gerast sein sollte; wissend, daß bei den Soldaten die Nerven blank liegen. Als zweites habe ich sofort gedacht, daß es doch nicht sein kann, daß die Wachtposten nicht gewußt haben, wer da in dem Fahrzeug war. Eigentlich hätte auf Frau Sgrena am ersten Kontrollpunkt ein amerikanischer Helikopter warten müssen, um sie nicht der Gefahr einer neuerlichen Entführung auszusetzen. Tatsächlich aber weiß ich objektiv, daß die Regierung Berlusconi schlecht und hektisch arbeitet und mehr am Machterhalt und der eigenen Selbstdarstellung als an erfolgreicher und den Menschen nützender Politik interessiert ist. Pure Schlamperei ist also absolut wahrscheinlich.

Das US–Militär schließlich ist gezwungen, immer mehr schlecht ausgebildete Reservisten anstelle regulärer Truppen im Irak einzusetzen. Die ganze Charmeoffensive der Bush–Regierung im neuen Jahr beginnt immer mehr in dem Licht zu erscheinen, daß sie ausschließlich der zunehmenden Einsicht entspringt, daß es zwar relativ einfach gewesen ist, den Krieg zu gewinnen und Parlamentswahlen abzuhalten, daß es aber nicht gelingt, die Verhältnisse im Lande tatsächlich zu stabilisieren.

Thursday, March 17, 2005

Mein Provider machte heute morgen schlapp, ein "Backbone-Server" sei kaputt, aber man arbeite mit Hochdruck daran und um 13:00 Uhr sollte alles wieder gehen. Es kann ja immer mal was zu Bruch gehen, aber ich verstehe nicht recht, warum die ganze Geschichte nicht durch bessere Backup–Systeme gesichert ist. Könnte man als zahlender Kunde eigentlich erwarten, oder? Es ist schon nervig, wenn man seine Mails und die gewohnten Onlineangebote der Zeitungen nicht lesen kann, wie man es gewohnt ist.

Andererseits ist man ja auch selber Schuld, wenn man die eigene Lebensweise und das "Wohlbefinden" dermaßen davon abhängig macht, daß irgendwo irgendwelche Maschinen laufen, die es schon richten werden. Das hat ja noch nicht einmal primär etwas mit Binärrechnern zu tun, sondern betrifft unsere gesamte Lebensweise, seit die Maschinen mit Einführung des mechanischen Webstuhls begonnen haben, den Menschen die Arbeit wegzunehmen, die sie bisher ernährt hat.

Apropos Arbeit, es war ein wetterbedingt arbeitsreicher Monat für mich, so daß ich weniger zum Schreiben gekommen bin als ich eigentlich wollte. Aber es gibt in diesem Monat ein paar Kommentare von mir zum Hartz–IV Gesetz im Forum des Oldenburger Taximagazins "DER INNENSPIEGEL," an dem ich mich mehr oder weniger regelmäßig beteilige. Die Grausamkeiten, die der Staat den Langzeitarbeitslosen seit Beginn des Jahres zumutet sowie die statistische Begradigung, die die Arbeitslosenzahl über die Fünf–Millionen–Hürde gehieft hat, hat dazu geführt, daß dieDiskussion darüber, wie ein Hochpreisland seine Stücklohnkosten und Lohnnebenkosten senken kann, wieder angeheizt. Kurz vor dem gestrigen "Jobgipfel" beim Bundeskanzler, dessen Bewertung vorher zwischen "letzte Chance für Deutschland" und "keine zu großen Erwartungen hegen" schwankte, ließ es sich der neue Bundespräsident Köhler nicht nehmen, seinen verfassungsmäßig gesteckten Rahmen sehr weit auszulegen und sich, da er ja ein Mann vom Fach ist, in die aktuelle politische Diskussion mit einer Rede vor den Arbeitgebern einzumischen.

Was ich davon gehört habe, war nichts Besonderes oder gar Neues, die üblichen Aufforderungen an die Politik halt, der Schaffung von Arbeitsplätzen Vorrang vor allem Anderen zu geben. Da die Rede jedoch vor Arbeitgebervertretern stattfand, denjenigen also, die beinahe als Einzige theoretisch in der Lage wären, eine hinreichende Anzahl an Jobs zu schaffen beziehungsweise die Verlagerung der Produktion ins Ausland zu stoppen, muß es einen doch verwundern, daß Herr Köhler es vergessen hat, diese direkter anzusprechen und daran zu erinnern, daß es bereits eine große Steuerreform unter der Rot–Grünen Regierung gegeben hat, die Spitzenverdiener und Mittelstand um 50 Milliarden (damals noch) D–Mark entlastet hat, nicht aber dazu führte, daß mehr Jobs entstanden sind oder das Outsorcing gestoppt worden wäre.

Es ist gut, daß der Präsident die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in den zurückliegenden Jahren gelobt hat, denn dies könnte die Gewerkschaftvertreter, die leider viel zu oft in den Aufsichtsräten der Großunternehmen sitzen, die hier im Lande gar keine Steuern mehr zahlen, daran erinnern, wessen Interessen sie eigentlich zu vertreten haben und ob sich Zurückhaltung in der Tarifpolitik lohnt, wenn doch stets immer mehr Stellen abgebaut werden, obwohl die Unternehmensgewinne gestiegen sind, Managergehälter und Abfindungen in astronomische Höhen geklettert sind und die Auszahlung von Dividenden an die Aktionäre Vorrang vor der Sicherung von Arbeitsplätzen hat. Es wird zunehmend schwierig werden, dies den Hartz–IV Opfern, Arbeitnehmern und Rentnern zu erklären. Das Agieren sämtlicher relevanter Parteien ist jedenfalls nicht geeignet, der Politikverdrossenheit der Menschen in Deutschland erfolgreich zu begegnen.

Wednesday, March 23, 2005

Die Tatsache, daß es der Bundesregierung gelungen zu sein scheint, in Brüssel dafür zu sorgen, daß die besonderen Probleme Deutschlands mit den Kosten der Wiedervereinigung sowie die Nettobeiträge zur EU–Kasse bei zukünftigen Überschreitungen der Drei–Prozent Defizitgrenze Berücksichtigung finden, hat ein ziemlich geteiltes Echo erfahren:

Die Lockerung des neun Jahre alten Pakts in wichtigen Punkten ist in Europa umstritten. Europäische Zentralbank und Bundesbank sprechen von einer Schwächung. In Deutschland gibt es auch Protest von der Opposition und der Wirtschaft. EU-Gipfel billigt Reform des Stabilitätspakts
Die deutschen Kommentatoren gehen überwiegend kritisch mit der Entscheidung ins Gericht:
‘Blamage für Europa’ titelt die Zeitung DIE WELT und schreibt: "Da haben die Europäer nun drei Jahre lang darüber verhandelt, wie der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert werden kann. Und was ist dabei herausgekommen? Ein Kompendium unverbindlicher Floskeln. Vor allem Deutschland und Frankreich haben ihr Gewicht in der Währungsunion schamlos ausgenutzt, um das Regelwerk noch weiter zu verbiegen. Ihnen ging es nicht darum, das Fundament für den Euro nachhaltig zu stärken, sondern offenkundig nur darum, in den kommenden ein oder zwei Jahren auf dem Papier gut auszusehen. Für Europa ist das ein Trauertag."
Finde ich irgendwie nicht, denn was dieser Kommentator wie viele andere auch vergessen, ist, daß es eben "Wachstums– und Stabilitätspakt" heißt. Die einseitige Fokussierung auf die Eurostabilität unter Vernachlässigung des Wachstumsaspektes, die auch aus dem Beitrag der "Welt" spricht, zeigt nur, daß diese Kritiker schon den ursprünglichen Pakt nicht verstanden haben:
Auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG kritisiert die Entscheidung: "Griechische und italienische Politiker dürfen sich freuen. Künftig müssen sie keine Daten mehr manipulieren, sondern können ganz offiziell über ihre Verhältnisse leben. Den politisch instabilen Volkswirtschaften Osteuropas wird signalisiert, sie müssten nach ihrem Euro-Beitritt keine scharfen Spargebote beachten. Es wäre ein Wunder, wenn solche Entwicklungen der Währung nicht schaden würden. Die Bundesrepublik hatte in Europa einst eine wirtschaftspolitische Leitfunktion. Die EU übernahm die deutsche Idee der Wettbewerbskontrolle, folgte bei der Währungsunion Bonner Stabilitätsforderungen. Altkanzler Kohls Europhilie war kein politischer Selbstzweck. Die deutsche Wirtschaft profitierte stets von der Integration".
Den letzten Satz kann ich angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen im Lande irgendwie nicht so recht nachvollziehen. Für die "Süddeutsche" heißt "profitiert" offensichtlich nur Profit im Sinne der Großunternehmen und Aktionäre. Was aber hatten deutsche Arbeitnehmer vom Stabilitätspakt? Outsorcing und Arbeitslosigkeit infolge viel zu hoher Lohnnebenkosten!

Auch die internationale Presse ist, wie die immer ausgewogene Auswahl des Deutschlandfunks zeigt, gespalten. Insbesondere die Zeitungen aus den neuen Mitgliedsländern stehen den von den großen und alten Mitgliedsländern (und Defizitsündern) Frankreich und Deutschland durchgesetzten Änderungen kritisch gegenüber:

Die slowenische Tageszeitung DELO titelt: "Ein fauler Kompromiss - und alle sind zufrieden". Weiter lesen wir: "Es verwundert doch, wie schnell und auf welche Weise der Stabilitätspakt nun reformiert wurde. Diese Eile und natürlich der Kompromiss selbst nutzen vor allem der deutschen Regierung. Denn sie hat die höchste Arbeitslosigkeit in Deutschland seit sechzig Jahren zu verantworten — und bekommt nun die Chance, vielleicht doch die Bundestagswahl 2006 zu überleben. Die vereinbarte Reform gibt allen EU-Haushaltssündern viel mehr Zeit, um ihre Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen".
In der Tat könnte die Regierung Schröder von dieser Änderung profitieren, wenn sie den Umstand, daß unsere Nettozahlungen endlich in Brüssel Berücksichtigung finden, medienwirksam verkauft. Denn es ist tatsächlich Thema in Gesprächen zwischen den Leuten hier im Lande, daß unsere Nettozahlungen bislang nicht in das Defizitverfahren einbezogen worden sind und Schröder ist letztlich doch ein Populist. Er weiß, daß diese Reform bei den Menschen populär ist. Erst recht, wenn wie geschehen, Wirtschaft und Opposition voll der Kritik sind. Es dämmert den Menschen, daß hier vielleicht einmal etwas Positives geschieht, wenn, wie der "Mann auf der Straße" seit Jahren fordert, die Nettozahlungen an die EU, die ja unser Defizit vergrößern, nicht dazu führen dürfen, daß unser Land in einem Defizitverfahren auch noch Strafen bezahlen soll. Insofern muß man die kritische Wirtschaft fragen, ob sie denn dafür ist, daß unser Land diese Strafen bezahlt, und die Opposition muß sich fragen lassen, wessen Interessen sie eigentlich vertritt; die der Menschen oder die der Konzernbosse und Kapitaleigner, die als einzige vom viel zu hohen Eurokurs profitieren:
"Im Gerangel um den Stabilitätspakt haben die 'big three' des Euro-Raums jedoch ihren Willen mit scheinheiligen und ökonomisch geradezu absurden Argumenten durchgesetzt. Sie haben erreicht, dass der Pakt ihrer unsoliden Finanzpolitik angepasst wird und nicht umgekehrt, wie es sein müsste. Welche Ironie der Geschichte: Bei der Ausarbeitung des Stabilitätspaktes war Deutschland die treibende Kraft für möglichst rigorose Bestimmungen und für automatisch fällig werdende Sanktionen bei Vertragsverletzung gewesen. Falls das rücksichtslose Vorgehen der Großen und das Zurechtbiegen von Verträgen Schule machen sollten, würde der Europäischen Union das Fundament entzogen, auf dem sie steht", folgert die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG . — Dienstag, 22. März 2005
So verwundert mich denn auch die Kritik der Schweizer überhaupt nicht, sondern bestärkt mich noch in meiner Überzeugung, daß die Reform eine gute Sache ist. Wenn die Schweizer, die allen möglichen Steuerflüchtlingen noch immer einen sicheren Hafen für Schwarzgeld bieten, eine von fünfundzwanzig europäischen Staatschefs beschlossene finanzpolitische Maßnahme ablehnen, kann diese nicht so ganz schlecht für uns einfachen Leute sein.

Thursday, March 24, 2005

Die Schweizer legen nach! Diesmal zur revidierten Dienstleistungsrichtlinie. Auch heute wird die NEUE ZÜRICHER ZEITUNG von der Presseschau des Deutschlandfunks zitiert. Man achte auf die Einschätzung des DLF–Redakteurs zum Gemütszustand des schweizer Kommentators:

Das Blatt ist erbost und notiert: "Als Gipfel eines wirtschaftspolitischen Neustarts wird das Brüsseler Treffen schwerlich in die Annalen Europas eingehen. Handlungsbedarf wäre durchaus gegeben. Vor dem Hintergrund von mindestens 18 Millionen Arbeitslosen müsste die konsequente und umfassende Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte in der EU eigentlich unbestritten sein. Doch selbst Kommissionspräsident Barroso zeigt seit seinem Amtsantritt aufreizend viel Verständnis für nationale Empfindlichkeiten und Sonderwünsche. Er trug mit seiner Haltung wesentlich dazu bei, dass sich das von Frankreich und Deutschland angeführte Lager der Modernisierungs-Bremser am Gipfel rasch und vollständig durchsetzen konnte — zum Ärger der meisten neuen EU-Mitglieder."
Da von diesen "mindestens 18 Millionen Arbeitslosen" mindestens 5,2 Millionen auf Deutschland entfallen, soll mir der Kommentator mal erklären, warum wir einem Gesetz zustimmen soll, das uns ohne Zweifel noch mehr Jobs kosten würde, wenn es in der Form in Kraft getreten wäre, in der es dereinst von Herrn Bolkestein in die EU–Kommission eingebracht worden ist. Denn das die Richtlinie neue Jobs schaffen würde, ist doch nur ein frommer Wunsch. Vielmehr wäre es nur zu einer Verlagerung in unsere Nachbarländer gekommen, weil dort Lohnniveau und soziale Standards niedriger sind. Das aber, und da befindet sich die Regierung Schröder durchaus im Einklang mit der Mehrheit der Menschen in diesem Land, kann nicht unser Interesse sein.

Thursday, March 31, 2005

Zwei interessante Veröffentlichungen sind es, die ich heute besprechen will. Zum einen ist es ein Abschnitt aus Umberto Ecos Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, der im NEW YORKER veröffentlicht worden ist, zum zweiten ein Essay von Salman Rushdie in der heutigen Ausgabe der ZEIT.

Ecos neuen Roman habe ich noch nicht gelesen, aber in der FAZ–Rezension ist dazu zu lesen, daß es um einen Antiquar geht, der infolge eines Schlaganfalls oder einer anderen Erkrankung sein Gedächtnis verloren hat und nun versucht, sein bisheriges Leben zu rekonstruieren:

"Der Antiquar hat immerhin eine Frau, zwei Töchter, drei Enkel und einen hilfreichen Freund, die ihm alle nun geduldig auseinandersetzen, wer er ist und wer er war. Man müßte gleich sagen: was er alles gelesen hat. Denn wenn ein Schriftsteller wie Umberto Eco seine Hauptfigur den Satz sagen läßt "Ich habe ein Zitat gelebt", dann ist das für die Figur möglicherweise eine bittere Einsicht, dem Leser macht sie unmißverständlich klar, daß die Lektüre auf der direttissima in die Bibliothek des Weltbestsellerautors führt. Willkommen in Ecoland." Der Geist in der Nebelmaschine "Arf arf bang crack blam": Umberto Ecos Enzyklopädie des Trivialen. — Von Hannes Hintermeier
Der Artikel beurteilt den Roman nicht immer positiv, aber genau der Teil, der nun in der englischen Übersetzung im NEW YORKER vorab veröffentlicht worden ist, ist für Hintermeier der beste Teil des Romans:
"Die religiöse Erziehung des verklemmten Knaben oszilliert zwischen düsterem Beichtstuhlkatholizismus und einem wirren Lebenslehrer namens Gragnola, der ihm erklärt, Gott sei ein Faschist und das Böse schlechthin. Im Krieg widerfährt Yambo dann jenes Erlebnis, das Eco mittels einer Novelle dem Roman aufpfropft – die Geschichte der Befreiung von acht Kosaken-Überläufern aus den Fängen der SS, an der Yambo in tiefnebliger Nacht als Bergführer beteiligt ist. Im Verlauf dieser Aktion stößt Gragnola zwei Deutsche in eine Schlucht und begeht, als er von den Banden des Duce aufgegriffen wird, Selbstmord. Dieser Teil der Geschichte ist beklemmend, auf den Punkt geschrieben und zeigt Eco auf der Höhe seines Könnens. Was für weite Teile des Buches leider nicht gilt (…)." — Hannes Hintermeier
Mag sein, mag auch nicht sein. Jedenfalls ist der Roman auf meiner persönlichen Liste für den Sommer. Schließlich mochte ich seine bisherigen Romane, zuletzt Baudolio und natürlich insbesondere Der Name der Rose sehr gerne. Und was die "aufgepfropfte Novelle" anbelangt, so macht diese durchaus Appetit auf mehr:
"My memory is proglottidean, like the tapeworm, but unlike the tapeworm it has no head, it wanders in a maze, and any point may be the beginning or the end of its journey. I must wait for the memories to come of their own accord, following their own logic. That is how it is in the fog. In the sunlight, you see things from a distance and you can change directions purposefully in order to meet up with something particular. In the fog, something or someone approaches you, but you do not know what or who until it is near.
But when I think of my life at the Oratorio I can see it all, like a film. No longer proglottidean but, rather, a logical sequence …"

The Gorge
Diese Nebelmetaphorik, so Hintermeier in seiner Beprechung, "wird dermaßen zu Tode geritten, daß der Gaul am Ende um Erlösung bittet." Der Nebel erlangt im Verlauf der Story als "fog of war" in der Tat eine besondere Bedeutung, weil nur er die Gejagten vor den Jägern verbirgt und ich fühlte mich durchaus ein wenig an den Herrn der Ringe erinnert, aber das mag daran liegen, daß ich mir gerade am letzten Wochenende die Trilogie noch einmal angesehen habe. Daß ich eventuell nicht ganz so falsch damit liege, Yambo als eine Art Hobbit und den antireligiösen Anarchisten Gragnola als Zauberer zu interpretieren, mag durch ein Interview mit dem amerikanischen Übersetzer des Romans belegt werden, wo dieser über das Buch sagt:
"The Mysterious Flame of Queen Loana, like other of his novels, borrows tropes and techniques from adventure novels and detective novels. As the title suggests, there is a mystery (indeed more than one) at the novel’s heart, and it generates various kinds of suspense, which makes the novel another Eco page-turner, despite (or because of?) his propensity for digression. (“Digressions are the sunshine,” as Laurence Sterne once said.) Also, Eco in this book is concerned with many of the same general subjects that have concerned him in the past: memory, history, fantasy…" Geoffrey Brock talks The Mysterious Flame of Queen Loana by Umberto Eco
Wenn uns die Lektüre des Romans unmißverständlich in die Bibliothek des Autors führt, so führt uns dieser Abschnitt über Religion, Faschismus und Anachismus vielleicht ins Zentrum der Weltanschauung Ecos, die die sekulare, postmoderne und anarchistische Weltanschauung zu sein scheint, die ich auch teile.

Was mich zum zweiten Text bringt. Salman Rushdies Essay in der heutigen ZEIT wendet sich gegen die Zunahme des Gewichts politischer Religiosität in den letzten Jahren und insbesondere seit der Wiederwahl George Bushs:

"Die Menschen haben sich immer der Religion zugewandt, wenn sie Antworten auf die beiden großen existenziellen Fragen suchten: Woher kommen wir, und wie soll man leben? Was die erste Frage angeht, so haben sich alle Religionen geirrt. Nein, die Welt wurde nicht in sechs Tagen von einer Supermacht erschaffen, die sich am siebten Tag ausruhte. Und sie wurde auch nicht von einem Himmelsgott in einem gigantischen Kessel zusammengerührt. Und was die soziale Frage angeht, so lautet die Wahrheit ganz einfach: Überall dort, wo die Religion den Kurs einer Gesellschaft bestimmt, kommt es zu Tyrannei. Zur Inquisition. Zu den Taliban.

Gleichwohl behaupten die Religionen nach wie vor, einen besonderen Zugang zu ethischen Wahrheiten zu haben und folglich eine besondere Behandlung und besonderen Schutz zu verdienen. Sie verlassen den Bereich des Privaten, in den sie gehören (wie viele andere Dinge, die akzeptabel sind, wenn sie im Privaten und im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Erwachsenen passieren, nicht jedoch, wenn sie in der Öffentlichkeit passieren), und streben nach Macht. Das Heraufkommen des radikalen Islams braucht hier nicht beschrieben zu werden, viel bedeutsamer ist das Wiedererstarken von Religiosität. (…) In Europa verstand sich die Aufklärung als eine Gegenbewegung, die die Fesseln der Religion abschütteln wollte. In Amerika war es eine Bewegung, die sich der religiösen Freiheit in der Neuen Welt zuwandte – ein Weg zu mehr statt weniger Religiosität. Heute erschrecken viele Europäer über die amerikanische Mischung aus Religion und Nationalismus. (…) Victor Hugo schrieb: »In jedem Dorf gibt es eine Fackel, den Lehrer, und jemanden, der dieses Licht löscht, den Pfarrer.« Wir brauchen mehr Lehrer und weniger Pfarrer, denn, wie James Joyce einmal sagte: »Für die Kirche gibt es keine schlimmere Häresie oder Philosophie als den Menschen.« Aber das beste Argument für säkulares Denken stammt vielleicht von der großen amerikanischen Anwältin Clarence Darrow: »Ich glaube nicht an Gott, weil ich nicht an Kindergeschichten glaube.«" Wir brauchen mehr Lehrer, keine Pfarrer — von Salman Rushdie.

"Victor Hugo wrote, “There is in every village a torch: the schoolmaster — and an extinguisher: the parson.” We need more teachers and fewer priests in our lives because, as James Joyce once said, “There is no heresy or no philosophy which is so abhorrent to the church as a human being.” But perhaps the great American lawyer Clarence Darrow put the secularist argument best of all. “I don’t believe in God,” he said, “because I don’t believe in Mother Goose.”" The Trouble with Religion – Wherever Religions get into Society’s Driving Seat, Tyranny Results. By Salman Rushdie. Original im Telegraph aus Calcutta (Sunday, March 20, 2005).

Es ist wirklich unglaublich, wie stark das gesellschaftliche Interesse immer noch von den Religionen oder den religiösen Vorstellungen irgendwelcher Sekten bestimmt ist, und deshalb ist Rushdie absolut zuzustimmen, wenn er sagt, daß es nicht um eine spezielle Religion oder eine extreme Ausprägung einer solchen wie dem radikalen Islam geht, sondern um das "Wiedererstarken von Religiosität" allgemein. Das muß dem postmodernen Menschen, der sich von Niemandem mehr eine absolute Wahrheit verkaufen läßt, natürlich sauer aufstoßen. Insbesondere, wenn die weltbeherrschende Ideologie die von Rushdie angesprochene puritanische amerikanische Wirtschaftsideologie namens Globalisierung ist, auf die leider auch die Europäer reingefallen sind. Und echte Postmodernisten wie Rushdie sind nicht mehr wohlgelitten in den USA, teilen eher den europäischen Standpunkt, der in der Tat korrekt mit einem Erschrecken vor der amerikanischen "Mischung aus Religion und Nationalismus" beschrieben ist.

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