Ottos Weblog Juni 2005Index2004: Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember November 2005: Januar Februar März April Mai Juli August September Oktober November Dezember 2006: Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Thursday, 02 Saturday, 11 Saturday, 17 Tuesday, 21 Tuesday, 22 |
Thursday, June 02, 2005
Holland in Not
Was sind die tatsächlichen Ursachen und was folgt aus der Ablehnung der
EUVerfassung durch unsere französischen und niederländischen
Nachbarn? Liest man die heutige
Presseschau des Deutschlandfunks,
so benennt jeder Kommentator andere Gründe und verweist auf andere Folgen
dieser immerhin bemerkenswerten demokratischen Entscheidung der Menschen in
zwei der wichtigsten Mitgliedsländer der Europäischen Union. Eine
umfassendere Erklärung scheitert, wie im übrigen auch bei den
Analysen durch die betroffene Politikerelite, aber zumeist an der
ideologischen Ausrichtung der Person, die kommentiert.
Ist es das Versagen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, die Osterweiterung,
der Euro oder die weitverbreitete allgemeine Xenophobie, die zur Ablehnung
geführt haben, oder sind es alle diese Gründe (zuzüglich noch
einiger mehr) zusammen, die man bedenken muß, wenn man nach einer
umfassenden Erklärung sucht.
Oder gibt es eine solche umfassende Erklärung gar nicht, weil in
Frankreich und den Niederlanden jeweils ganz unterschiedliche Gründe und
die unglaublichsten Koalitionen unter den Neinsagern auszumachen waren. Und
glaubt man den Demoskopen, wäre ein Referendum hierzulande nicht negativ
ausgefallen, wohl weil die Menschen schon mit der NRWWahl Gelegenheit
genug hatten, die Regierung abzustrafen; eine Motivation, die wohl die meisten
Neinsager quer durch alle Lager teilen.
Paradox ist, und diese Unlogik teilt diese Ablehnung mit der NRWWahl, ist
die Tatsache, daß diejenigen abgestraft werden, die das machen, was
dringend nötig ist. Das sieht auch Richard Bernstein in der
New York Times
so:
Es stellt sich aber tatsächlich die Frage, wieviel Reform nötig ist
und in welchem Tempo die angeblich so verwöhnten Europäer gewillt
sind, mit ihrer politischen Elite mitzugehen. Ist es tatsächlich bittere
Notwendigkeit, auf so manche liebgewonnene soziale Errungenschaft zu
verzichten, weil die Globalisierung dies verlangt, oder unterwerfen sich unsere
Politiker sich nicht allzu freiwillig unter den Willen der neoliberalen
Ökonomie, die seit 1989, und noch einmal nach dem 11. September 2001
verstärkt zur leitenden Maxime allen politischen Handelns auf der Welt
geworden ist. Die neoliberalen Think Tanks verlangen allen Ernstes auf lange
Sicht den weitgehenden Verzicht auf jedes fürsorgliche staatliche Handeln.
Der Markt soll es richten.
Ich denke, nach dem Referendum gerade in Frankreich werden es sich die
Eurokraten überlegen müssen, ob sie mit der Umgestaltung der
europäischen Institutionen und deren totalen Ausrichtung auf den Markt und
dessen Gesetze riskieren wollen, über kurz oder lang die politische
Stabilität der europäischen Kernstaaten aufs Spiel zu setzen. Und
auch das Mißtrauen der Niederländer gegen einen europäischen
Superstaat ist aus deutscher Sicht höchst ehrenwert: ohne den starken
Föderalismus in Deutschland wäre Schröder schließlich
nicht vorzeitig gestürzt. Wenn die Nationalstaaten Kompetenzen an Europa
abgeben, muß Brüssel von diesen so viele wie möglich an die
Regionalstaaten in den Mitgliedsländern zurückgeben.
Was in diesem Monat schon so alles geschehen ist, hat mich beinahe stumm werden lassen. Nach der letzten Katastrophenmeldung von Ende Mai, daß Schröder der Merkel die Republik anscheinend auf dem Silbertablett präsentieren will, gibt sich die Linke große Mühe, mit der hundertjährigen Selbstzerfleischung fortzufahren. Oskar Lafontaines Ankündigung, auf der gemeinsamen Liste von PDS und WASG an der Seite Gregor Gysis in den Bundestag einziehen zu wollen, hat das allgemeine Interesse vordergründig von den Konzepten auf die Personen verlagert, aber Lafontaine und Gysi stehen natürlich für ein anderes "Links" als Schröder und Müntefering. Insofern sind die Konzepte natürlich schon im Spiel. Lafontaine ist schließlich deshalb 1999 zurückgetreten ist, weil er Schröders Weg für falsch hielt. Man könnte argumentieren, daß er Recht gehabt hat, denn Schröders Reformkonzepte haben die SPD anscheinend genau dorthin gebracht, wo sie jetzt ist unter dreißig Prozent! Die SPD ist natürlich sauer und aufgebracht, Lafontaine wird als Populist und Schönwetterpolitiker gebrandmarkt, der sich aus dem Staub gemacht hat, als es eng wurde: "Der saarländische SPD-Vorsitzende Heiko Maas sagte ( ): "Willy Brandt würde sich im Grabe umdrehen" ( )."Würde er vielleicht, aber es ist doch wohl offen, weshalb wegen Oskars "Verrat" oder wegen der 29 Prozent, auf die die SPD in den Wahlumfragen gefallen ist; ein Rückstand, der unmöglich bis zu den geplanten Wahlen im September aufzuholen ist. Folglich kann doch aus linker Sicht die Lösung nur lauten, durch ein neues, alternatives Linksbündnis diejenigen an die Wahlurnen zurückzubringen, die es nicht mehr mit sich vereinbaren können, die SPD oder die Grünen zu wählen, und so den erwarteten glatten Durchmarsch der Rechten zu verhindern. Die Frage wird sein, wieviele Stammwähler von der SPD abzieht oder ob nicht seine Hochzeit mit Gysis PDS einen gegenteiligen Effekt bei der SPD bewirkt: jetzt gehts ums Ganze! Einige Highlights aus der heutigen Presseschau des Deutschlandfunks: "( ) die Präsenz des charismatischen 'Oskar' macht das Bündnis für viele Deutsche wählbar auf Kosten der SPD. Doch am meisten wird sich die Union freuen. Denn was haben jetzt die Sozialdemokraten noch zu bieten? Wer den alten Versorgungsstaat zurück will, wird das Linksbündnis wählen. Wer sich hingegen tiefgreifende Reformen wünscht, wird für SchwarzGelb stimmen", mutmaßt DIE PRESSE aus Wien.Zu der Meinung des Kommentators der Wiener PRESSE ist zu sagen, daß der Kanzler vielleicht genau darin seine Chance sieht, sich in der Mitte zwischen Links und Rechts zu positionieren. Ich frage mich jedoch ernsthaft, ob ihm die Menschen unabhängig von jeglichem RechtsLinks Geschiebe die Lösung der Probleme überhaupt noch zutrauen. Dem italienischen Kollegen kann man nur zustimmen: die Imponderabilien dieser Wahl sind immens. Zum STANDARD ist zu sagen, daß Druck von Außen natürlich den Schulterschluss stärkt und mit seiner Entscheidung, vorzeitige Neuwahlen anzustreben, hat Schröder alle Flügel seiner Partei in die Pflicht genommen. Das Argument, das allen Wahlkämpfern von RotGrün zur Verfügung steht, wird lauten: wollt ihr wirklich Merkel, Stoiber, eine weitere sozial Demontage und die ungebremste Globalisierung? Denjenigen, die nicht mehr grün wählen woll(t)en, gibt man mit der angestrebten Verlängerung der AKWLaufzeiten gewichtige Argumente in die Hand, zumindest den Versuch zu unternehmen, SchwarzGelb zu verhindern.
Die türkische Regierung und Teile der Bevölkerung haben äußerst ungehalten auf den gestrigen Bundestagsbeschluss reagiert, den Völkermord an den Armeniern auch als solchen zu bezeichnen. Regierungschef Erdogan war wohl besonders sauer auf Gerhard Schröder, dessen "Rückgratlosigkeit" er kritisierte: Der Kanzler habe sich erst kürzlich der türkischen Position in der Armenierfrage angeschlossen. Vor dem Bundestagsbeschluss hätte der Kanzler dies erneut klar machen und auch Einfluss auf die SPD-Bundestagsabgeordneten nehmen müssen, sagte Erdogan. Das habe Schröder jedoch nicht getan. "Ich schätze eher Politiker mit Rückgrat", sagte der Ministerpräsident. ( ) Der Bundestag hatte gestern mit den Stimmen aller Fraktionen eine Entschließung zum Gedenken an die türkischen Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 verabschiedet. In der Resolution selbst ist nicht von "Völkermord" die Rede, wohl aber in der Antragsbegründung. ( ) Ankara bestreitet nicht, dass bei Massakern und Zwangsmärschen zwischen 1915 und 1917 zahlreiche Menschen umkamen, spricht aber von den Folgen einer Zwangsumsiedlung, die wegen des Krieges notwendig gewesen sei. Armenien und viele internationale Wissenschaftler gehen dagegen von einem geplanten Völkermord mit bis zu 1,5 Millionen Toten aus. In den vergangenen Jahren hatten die Parlamente mehrerer Länder das Geschehen als Völkermord bezeichnet, darunter die Volksvertretungen in Frankreich und der Schweiz. DER SPIEGEL Gleichzeitig fiebert die türkische Regierung der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU entgegen und Erdogan merkt anscheinend nicht, daß sich die türkische Haltung zu dem Massaker von 1915 langsam zu einem Lackmustest für die türkische Bereitschaft entwickelt hat, Europa auch "innerlich" beizutreten und nicht nur von den wirtschaftlichen Vorteilen profitieren zu wollen, jedenfalls aus zentraleuropäischer Sicht. Anders herum aber wird man Erdogan kaum zu einer Änderung seiner Haltung bewegen können, wenn man ihm trotz jahrzehntelanger gegenteiliger Versprechen jetzt nur noch eine "privilegierte Partnerschaft" statt einer Vollmitgliedschaft anbietet. Und da Schröder aller Voraussicht nach nicht mehr lange Kanzler sein wird, und Merkel sowieso gegen die Türkei ist, kann Erdogan ruhig auf Ersteren schimpfen. Alles andere wäre wohl innenpolitischer Selbstmord, und eine instabile Türkei können wir nicht auch noch gebrauchen. Insofern ist wirklich fraglich, ob dieser Beschluß des Bundestages so eine kluge Sache war.
So langsam scheint es bei den Regierungsparteien angekommen zu sein, daß Kanzler Schröders Ankündigung, die Vertrauensfrage stellen zu wollen, seinen Stellenwert auf der Beliebtheitsskala nicht unbedingt wieder auf alte Höhen bringt. Was bleibt den Sozis also außer der Rückbesinnung auf sozialdemokratische Traditionen, auch wenn von diesen in den letzten sechs Jahren herzlich wenig zu spüren gewesen ist. Insofern überrascht es mich wenig, wenn beide Regierungsparteien passend zum Wahlkampf ein Thema wiederentdecken, daß sie selbst bislang unter dem Stichwort "Neid" als irrelevant abgetan hatten: die Sondersteuer für Spitzenverdiener: Die SPD will voraussichtlich mit einer "Millionärssteuer" auf Stimmenfang gehen. Die Forderung nach einer Sondersteuer für Reiche soll Presseberichten zufolge ein Baustein im Wahlprogramm der Partei werden. Im Finanzministerium wird bereits gerechnet, wie viel Geld damit in die Kasse kommen könnte. SPD plant Sondersteuer für MillionäreWas ich nur nicht verstehe, ist, warum man darauf bisher nicht gekommen ist. Die Kassen sind doch nun schon wirklich lange genug leer. Wann immer jemand von den HartzIV Kritikern eingewandt hatte, daß man doch nicht nur wie geschehen die Armen zur Ader lassen dürfe, wurde er mit dem Hinweis, daß eine "Neiddebatte" nichts bringe, niedergeschrien. Was wir zudem in den Zeiten der Globalisierung brauchen, damit eine solche Steuer überhaupt greifen kann und nicht einen gegenteiligen Effekt erzielt, ist ein Ausbürgerungsrecht, eine Lex Schumacher: wer meint, seine Steuern hier nicht mehr zahlen zu müssen, soll auch seinen deutschen Pass abgeben müssen. Wie, das geht nach deutschen Recht nicht? Das kann man ändern. Wir dachten auch nicht, daß jemand, der nach vierzig Jahren Arbeit arbeitslos wird, nach einem Jahr der Arbeitslosigkeit mit 345 Euro abgespeist wird. Wenn wir uns diesen Sozialstaat so nicht mehr leisten können, können wir uns Millionäre, die keine oder nur wenig Steuern bezahlen, schon lange nicht mehr leisten.
Zum Wahlprogramm der Grünen (aus der DLFPresseschau ): Die FRANKFURTER RUNDSCHAU fasst es zusammen: "Den Auftakt bildet eine Litanei der Not: "tiefgreifender Umbruch", "wirtschaftlicher Druck", "Europa in einer Krise", "Erosion der sozialen Sicherungssysteme", "Ausgrenzung", "dramatische Verschuldung", "Kommunen vor dem Bankrott" - alles in einem Absatz. Das ist ebenso ehrlich wie für die Grünen als Basis einer Werbung in eigener Sache prekär. Wer nach so langer Zeit in der Verantwortung so viel zu beklagen hat, klagt auch über eigene Unzulänglichkeit. Das Programm hat den Charakter einer Rechtfertigung und des Gelöbnisses: Das nächste Mal machen wir es bestimmt besser. Wie stehen die Aussichten? Es ist ein Verdienst des GrünenManifests, dass es nicht verschweigt, was womöglich die größte Fehlleistung des bisherigen rotgrünen Wirkens darstellt: den skandalösen, wachsenden Abstand zwischen Reich und Arm", notiert die FRANKFURTER RUNDSCHAU.Das hat mich in den letzten sechs Jahren immer gestört, daß es der Regierung niemals gelungen, diesen Trend umzukehren. Da es unter Merkel kaum anders und eher noch schlimmer werden wird, scheint es letztlich aber egal zu sein, wer regiert, weil sich das Land kaum aus dem Würgegriff der multinationalen Konzerne einerseits und aus dem Korsett der EUSubventionen für die Landwirtschaft andererseits befreien kann.
comments are appreciated © Otto Sell Juni 2005 |