Ottos Weblog September 2005Index2004: Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 2005: Januar Februar März April Mai Juni Juli August Oktober November Dezember 2006: Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Friday, 02 Sunday, 04 Saturday, 10 Monday, 19 Tuesday, 20 Friday, 30 |
Friday, September 02, 2005
Katrina and the Waves
Joschka Fischer und die Grünen sitzen nicht einfach so in Berlin auf der
Regierungsbank. Der eigentliche Grund hierfür war doch, wenn ich
mich recht entsinne, eine Ölkrise, die zum ersten Mal den Begriff der
"Grenzen des Wachstums" in die Debatte eingeführt hat. Heute, wo wir
angeblich vor einer "Schicksalswahl" stehen, während es doch nur um
Schröder oder Merkel geht, erinnert uns die Katastrophe, die die
schönste Stadt der USA gerade vernichtet, daran, daß der auch von
den deutschen Neokonservativen verwendete puritanische Slogan "Arbeit hat
Vorrang," der dazu verwendet werden soll, soziale und ökologische
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte rückgängig zu machen, ein
gefährlicher Irrtum ist. Es ist immer George Bushs Taktik gewesen, seine
Unterschrift unter das KyotoProtokoll mit dem Hinweis auf eventuelle
Arbeitsplatzverluste zu verweigern. Das kommt bei den einfach gestrickten
konservativen Wählern gut an. Verschwiegen wird allerdings der
überproportional große Energieverbrauch der USA, an dem vor allem
die Clique, für die Bush die Macht verwaltet, verdient.
Daß Bundesumweltminister
Jürgen Trittin
es in dieser Situation gewagt hatte, den Finger auf diesen wunden Punkt zu
legen, hat zu furiosen Reaktionen bei den konservativen Wahlkämpfern
geführt und Otto Graf Lambsdorff fordert heute sogar Trittins
Rücktritt, weil er dies am Dienstag in der Frankfurter Rundschau
geschrieben hat:
Der
SPIEGEL
hat auf seiner englischsprachigen Seite eine regelrechte Kampagne gegen
Trittin eröffnet und bietet allen möglichen Amerikanern und Deutschen
Gelegenheit, sich über Trittins mangelnde Sensibilität zu beklagen.
Dabei ist der Zusammenhang nicht zu bestreiten. Zwar hat nicht die Frequenz
zugenommen, wohl aber die Intensität. Es gibt infolge der
globalen Erwärmung nicht mehr Wirbelstürme per se, aber es treten in
den gefährdeten Gebieten zunehmend schwerere Stürme auf, mit denen
die Menschen, wie wir jetzt in New Orleans sehen, nicht mehr fertig werden.
Nicht einmal die bestens ausgerüsteten Amerikaner, die jetzt
ungläubig Bilder sehen müssen, die sie bisher nur aus der Dritten
Welt kannten. Und ob es angesichts der Perspektiven für die Zukunft
überhaupt Sinn macht, New Orleans in seinen bisherigen Grenzen wieder
aufzubauen, ist auch noch nicht sicher. Es dürfte schwierig werden, eine
Versicherungsgesellschaft zu finden, die einem eine Police für ein
Grundstück in dieser exponierten Lage verkauft.
Sunday, September 04, 2005
"und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte"
Matthäus
5.45
Das Wort zum Sonntag! Wie man ein Bibelzitat verhunzen kann, zeigt das Beispiel einer christlichfundamentalistischen Webseite aus den USA, die darauf hinweist, daß der Wirbelsturm und der Dammbruch gerade noch rechtzeitig gekommen sind, um das alljährliche "Southern Decadence"Festival zu verhindern, das eigentlich vom vergangenen Mittwoch bis zum morgigen Montag in der "bösen" Stadt New Orleans stattfinden sollte: "Southern Decadence" has a history of filling the French Quarters section of the city with drunken homosexuals engaging in sex acts in the public streets and bars. ( ) Hurricane Katrina has put an end to the annual celebration of sin. ( ) "Although the loss of lives is deeply saddening, this act of God destroyed a wicked city," stated Repent America director Michael Marcavage. ( ) "New Orleans was a city that had its doors wide open to the public celebration of sin. From the devastation may a city full of righteousness emerge," he continued. New Orleans was also known for its Mardi Gras parties where thousands of drunken men would revel in the streets to exchange plastic jewelry for drunken women to expose their breasts and to engage in other sex acts. ( ) Furthermore, Louisiana had a total of ten abortion clinics with half of them operating in New Orleans, where countless numbers of children were murdered at the hands of abortionists. Additionally, New Orleans has always been known as one of the "Murder Capitals of the World" with a rate ten times the national average.Na, dann ist ja alles klar. Da hatte der Allmächtige ja genug gute Gründe, diese Stadt so vom Antlitz der Erde zu tilgen wie ehedem das biblische Sodom oder am 24. August 79 n. Chr. das historische Pompeji. Dort hat man es, wie viele Fresken und Wandbilder zeigen, auch wild getrieben.
Aber nun zu dem Bibelzitat, mit dem der Artikel endet und das ich übersetzt als Überschrift gewählt habe. So, wie es hier verwendet wird, soll es augenscheinlich so interpretiert werden, daß auch die Unschuldigen bestraft werden, wenn es den Sündern wie jetzt in New Orleans an den Kragen geht, weil Erstere Letztere in den Mauern ihrer Stadt geduldet haben: "We must help and pray for those ravaged by this disaster, but let us not forget that the citizens of New Orleans tolerated and welcomed the wickedness in their city for so long," Marcavage said. "May this act of God cause us all to think about what we tolerate in our city limits ( )".Liest man hingegen den gesamten Abschnitt ("Von der Feindesliebe", Matthäus 5.3848), so ergibt sich eine komplett entgegengesetzte Aussage dieser Bibelstelle. Nichts könnte falscher und mißbräuchlicher sein, als hier eine göttliche Begründung dafür zu suchen, daß New Orleans von Wind und Wasser zerstört wurde: "Ihr habt gehört, daß gesagt ist: «Du sollst deinen Nächsten lieben» (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Matthäus 5
Der Kolumnist Christopher Hitchens äußert sich pünktlich zum vierten Jahrestag des 11. Septembers in der WELT zur Lage. Er argumentiert, daß wir uns nach dem Ende des Kalten Krieges in einer gefährlichen Illusion befunden haben. "Schon Mitte der neunziger Jahre war Saddam Hussein über Kuwait hergefallen, und Slobodan Milosevic machte sich daran, Bosnien auszulöschen. Ein theokratischer Diktator des Iran nahm sich heraus, Geld auszusetzen für den Mord an einem Londoner Schriftsteller. Es zeigte sich, daß wir keineswegs atavistische, aggressive und totalitäre Ideologien hinter uns gelassen hatten."Hitchens blendet völlig aus, daß nicht nur der ehemalige "Ostblock" eine totalitäre Ideologie darstellte, sondern daß der Westen sich während der Jahrzehnte der ideologischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion nur allzu gerne dieser atavistischer, aggressiver und totalitärer Regime bedient und diese sogar gefördert hat. "Man kann die Zeitschriften des Millenniumswechsels 2000/2001 nicht lesen, ohne das peinliche Gefühl zu haben, einem somnambulen Verwandten in einem verwahrlosten Haus zuzusehen. Ich glaube ganz zynisch, Osama Bin Laden hat uns in gewisser Weise einen Gefallen getan (und dem Heiligen Krieg einen schlechten Dienst erwiesen), als er vor vier Jahren Amerika angriff. Hätte er nicht diesen weltgeschichtlichen Fehler gemacht, hätten wir sicher ein talibanisiertes und atombewehrtes Pakistan zu der langen Liste der vernachlässigten Gefahren addiert (die Drohung steht noch immer im Raum, aber sie wird nicht mehr ignoriert)."Ein Dank an Bin Laden? Das ist in der Tat schon happig. Wirklich hanebüchen aber gerät ihm die Begründung für den amerikanisch/britischen Angriff auf den Irak: "Die Befreiung der theokratischen Kolonie Pakistans in Afghanistan war nur eine Antwort auf den Angriff von 2001. Aber wie stand es um den nächsten?"Angriff? Das unterstellt, daß Saddam Hussein, geschwächt von jahrelangen Sanktionen, überhaupt in der Lage gewesen wäre, irgend jemanden anzugreifen, so er denn diese Absicht hatte oder ob sein Streben nicht hauptsächlich darauf gerichtet war, den eigenen Machterhalt zu garantieren.
Monday, September 19, 2005
Oh, what a night
Ich hatte am gestrigen Abend ein paar Freunde zur Wahlparty eingeladen, weil ich, so die Intention, den Frust über eine wahrscheinliche Kanzlerin Merkel nicht alleine bewältigen wollte. Doch bereits die erste Prognose machte klar, daß der Tenor des Abends ein ganz anderer sein würde. Freude und Begeisterung darüber, daß der rechte Durchmarsch gestoppt wurde und es eine klare linke Mehrheit gegenüber der neoliberalen und neokonservativen Herausforderung gibt. Bei Wahlen gibt es ja eigentlich immer nur Gewinner, so auch gestern. Da mag sich ein Herr Westerwelle als Gewinner fühlen, weil die FDP als Siegerin unter den kleinen Parteien hervorgegangen ist. Sein Wahlziel hat er klar verfehlt. Joschka Fischer hat immmerhin in soweit Recht behalten, daß das merkelsche "Soufflé" in der Tat am Ende in sich selbst kollabiert ist. Er wird aber hoffentlich nicht den Fehler machen, in eine Schwarz-Gelbe Regierung einzutreten.
Das Erstaunlichste an dem Wahlergebnis ist, und das scheinen noch nicht alle Beobachter realisiert zu haben, daß es in Deutschland augenscheinlich eine numerische linke Mehrheit gibt, gegen die anzuregieren ziemlich undemokratisch wäre. Anders als mit Realitätsverlust kann man den ziemlich dreisten Anspruch der gescheiterten Kandidatin Merkel kaum erklären. Sie will sich von ihrem Haufen zwar schnell zur Fraktionsvorsitzenden wählen lassen, aber ich wette, in den Hinterzimmern werden schon die Messer gewetzt, denn der männliche, konservative und katholische Kanzlerwählverein Union wird der protestantischen Frau diese Niederlage nicht verzeihen.
Wir sind immer noch nicht weiter mit der Regierungsbildung, aber das war wohl auch vor den Nachwahlen in Dresden, die wegen des Todes einer NPDKandidatin notwendig geworden sind, nicht zu erwarten. Und genauso, wie es vor der Wahl eine ziemliche Medienkampagne gegeben hat, die den "Wechsel" herbeireden wollte, gibt es jetzt eine solche, die an Schröders Verstand zweifelt, weil er an seinem Anspruch auf die Führung einer eventuellen Großen Koalition in Berlin nicht aufgibt. Dabei ist mir überhaupt noch nicht klar, wie eine solche Elefantenhochzeit bei den unterschiedlichen inhaltlichen Positionen funktionieren soll. Wenn sich die SPD darauf einläßt, den Juniorpartner in einer Regierung zu spielen, die Merkels im Wahlkampf vertretene Positionen umsetzt, wird sie das nicht überleben, weil sie auf der linken Seite gewaltig Federn lassen wird. Das war im übrigen auch der Hauptgrund dafür, daß die "JamaicaKoalition" nie eine Chance hatte. Den grünen Spitzenpolitikern war klar, daß ihnen das grüne Wahlvolk niemals verziehen hätte, Merkel an die Macht gebracht zu haben. Was ist unverzichtbar für die SPD in den zu erwartenden Verhandlungen: nach einer SPIEGEL Meldung haben sich verschiedene SPDLinke zu Wort gemeldet und mal einige Inhalte in die Diskussion eingebracht: Die Pläne von CDU-Chefin Angela Merkel für die deutsche Gesellschaft hätten keine Zustimmung erhalten, sagte Jüttner. "Wenn das aber die Koalition prägen sollte, darf die SPD dieses Bündnis nicht eingehen", mahnte er. Bei den SPD-Wahlkämpfern löse eine Große Koalition eher Wut als Begeisterung aus. Die SPD dürfe sich nicht hergeben für Eingriffe in Arbeitnehmerrechte bei Tarifautonomie, Kündigungsschutz und Mitbestimmung. ( ) Falls ein Koalitionsvertrag mit CDU und CSU geschlossen werde, müsse sich darin die gesellschaftliche Mehrheit links von SchwarzGelb inhaltlich widerspiegeln. Als Beispiele für nicht mit der Union verhandelbare Punkte nannte Ypsilanti den Erhalt von Arbeitnehmerrechten, die Bürgerversicherung und den Atomausstieg. SPDLinke auf Distanz zur Großen KoalitionInsofern ist mein Glaube an eine erfolgreiche Große Koalition recht gering, und ich teile auch nicht die Auffassung, daß die Probleme des Landes nur angepackt und gelöst werden können, wenn der Sozialstaat dafür auf dem Altar der Globalisierung geopfert wird. Das gestrige Beispiel von DaimlerChrysler, wo trotz gesteigerter Umsätze und exorbitanter Gewinne wieder verbindliche Betreibsvereinbahrungen nicht eingehalten werden, zeigt nur, wo es falsch in der Wirtschaft läuft: Bundeskanzler Schröder hat den angekündigten Abbau von 8.500 Stellen beim Automobilkonzern Daimler-Chrysler in Deutschland kritisiert. Es könne nicht sein, dass deutsche DAX-Unternehmen glänzend verdienten, die Probleme aber allein auf die Politik abwälzten, sagte Schröder der "Sächsischen Zeitung" aus Dresden. Er forderte die Wirtschaft dazu auf, mehr Verantwortung zu übernehmen. Schröder kritisiert geplanten Stellenabbau bei DaimlerChryslerWahlkampf oder nicht, die zwei oder drei Mandate aus Dresden werden das Ergebnis der Bundestagswahl nicht mehr entscheidend beeinflussen. Aber ein Sieg der SPD in Dresden würde Schröders Position in den Verhandlungen natürlich stärken und die Merkels schwächen. Aber ich denke nicht, daß Schröder es sich leisten kann, auf unerfüllbare Positionen der Union einzugehen, um die Agende 2010 voranzubringen, wenn ihm dafür die Rückendeckung seiner Partei fehlt. Bevor die Linkspartei durch enttäuschte SPDWähler immer stärker wird, könnte sich Schröder überlegen, doch eine Linkskoalition unter Einschluß der Grünen ins Auge zu fassen.
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