Chapter 1 (118) (729)
Die Einleitung, eine typische Raymond ChandlerSituation: der
Privatdetektiv Larry Doc Sportello erhält einen Besuch von
einer jungen Dame (in diesem Fall sogar eine Exfreundin des Detektivs, Shasta
Fay Hepworth), die ihren reichen Geliebten Mickey Wolfmann, einen
Grundstückshai, vermisst und vermutet, dass dieser einer Intrige seiner
Ehefrau (und deren Freund) zum Opfer gefallen ist:
"Doc hadnt seen her for over a year. Nobody had. Back then it was always
sandals, bottom half of a flowerprint bikini, faded Country Joe & the Fish
Tshirt. Tonight she was all in flatland gear, hair a lot shorter than he
remembered, looking just like she swore shed never look."
(1)
"Heute Abend war sie von Kopf bis Fuß in Flachlandklamotten gekleidet und
trug das Haar erheblich kürzer, als er es in Erinnerung hatte, dabei hatte
sie geschworen, dass sie nie so aussehen würde."
(7)
Das "Flachland", das war für die Hippies die bürgerliche Welt, zu der
sie einen Gegenentwurf liefern wollten, gegen den Krieg im Allgemeinen (und den
VietnamKrieg im Speziellen), gegen Umweltzerstörung, Spekulation und
Ausbeutung. Im Roman steht dafür das Wort "Strand", unter Bezugnahme auf
die Pariser Mairevolte von 1968 und unter Bezugnahme darauf, dass die Hippies
von Los Angeles die Strandgemeinden wie Redondo Beach, Manhattan Beach (wo
Pynchon während der Zeit gelebt hatte, als er "Gravitys Raibow"
schrieb) sowie das fiktive "Gordita Beach" des Romans dem Leben in der Stadt
vorzogen.
Dieses verblichene T-Shirt ist wirklich die einzige, indirekte Reminiszenz an
das WoodstockFestival in diesem Roman über die späte
Hippeära in der letzten Märzwoche des Jahres 1970 in Los Angeles,
denn inzwischen war etwas geschehen, das die Wahrnehmung der Gegenkultur in der
bürgerlichen Gesellschaft grundlegend verändert hatte: die
MansonMorde. Die zuvor als harmlosverrückt angesehenen
Hippies, die sich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon längst von ihren
ursprünglichen politischen Ansprüchen entfernt hatten und in ein
drogengeschwängertes Privatleben geflüchtet waren, erschienen mit
einem Mal als potentiell bedrohlicher Kult.
Zum Zeitpunkt des WoodstockFestivals (18. bis 20. August 1969) waren die
Tate/La BiancaMorde (8. bis 10. August) zwar bereits geschehen, wurden zu
diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen aber noch nicht mit den Hippies
in Verbindung gebracht. Dies änderte sich erst, nachdem Charles Manson und
seine GruselMädchen Mitte Oktober 1969 verhaftet worden waren. Am 1.
Dezember 1969 verkündete der Polizeichef von Los Angeles in einer
Pressekonferenz, dass das LAPD den Fall "gelöst" habe. Der eigentliche
Prozess begann dann am 15. Juni 1970 und endete am 25. Januar 1971 mit den
Schuldsprüchen (Tod in der Gaskammer) für Charles Manson, Susan
Atkins, Patricia Krenwinkel und Leslie Van Houten. Die Todesstrafe wurde jedoch
weder bei Manson noch an einem der Mädchen vollstreckt.
In der Zeitspanne zwischen dem 23. März und Anfang Mai 1970, die Pynchon
für die Romanhandlung umgewählt hat, hatte der Prozess noch nicht
begonnen, und in der Öffentlichkeit und bei der Polizei herrschte
natürlich noch die Paranoia des relativen Nichtwissens über die
wahren Hintergründe der Verbrechen, so dass der Spekulation, der
Verdächtigung und der Bespitzelung Tür und Tor geöffnet war...in
dieser "Zwischenzeit" bewegt sich der Roman, und es ist nicht so ganz klar,
ob er sich nicht auch in ein paar andere Dimensionen hinein bewegt.
Mit dem Spitzelproblem in der Hippiebewegung hatte es Pynchon ja bereits in
seinem Roman "Vineland", und er greift das Thema in "Inherent Vice" wieder auf,
als wolle er uns zeigen, wie es dahin kommen konnte, dass sich die "Bewegung"
schließlich selbst verraten hat. Der Leser erfährt erst spät im
Roman (351, 455), was der Titel bedeutet, nämlich eine Besonderheit des
marinen Versicherungsrechts, die darin besteht, dass die Schiffsversicherung
keine "inhärenten Mängel" des transportierten Gutes oder des Schiffes
selbst umfasst. Man kann Eier nicht dagegen versichern, dass sie während
des Transports zerbrechen. Eine weitere mögliche Bedeutung, die sogleich
von Doc Sportello angeboten wird, ist der Begriff "Erbsünde", so dass wir
vor der Frage stehen, welchen dieser Bedeutungen des Titels für den Roman
eine besondere Rolle spielt, ob es vielleicht noch weitere Deutungen gibt oder
ob eine Kombination beider Bedeutungen nicht vielleicht eine Antwort gibt. Wenn
man Eier während des Transports nicht gegen das Zerbrechen versichern kann
und wenn Menschen moralisch versagen, dann gibt es auch keine Versicherung
dagegen, dass nicht auch eine eigentlich gutgemeinte "Bewegung", deren
Mitglieder sich durch den Gebrauch illegaler Drogen erpressbar machen, mittels
eines weitverbreiteten Spitzeltums durch Politik und Polizei zu Fall gebracht
wird. Oder wie es schon in "Gravitys Rainbow" heißt: "AN ARMY OF LOVERS
CAN BE BEATEN".
Shasta, die jetzt so aussieht, wie sie niemals aussehen wollte, dokumentiert
ihre Abkehr von den ursprünglichen Idealen bereits durch ihr
Äußeres. Die "Vorstellung" erinnert allerdings auch an Raymond
Chandler, wo es zu Beginn von "Der große Schlaf" heisst:
"Sie hatte hübsche lohfarbenes Haar, das viel kürzer geschnitten war,
als es die derzeitige Mode mit ihren eingerollten Pagenkopffransen
verlangte."
(Raymond Chandler, "Der große Schlaf", 6)
"Her hair was a fine tawny wave cut much shorter than the current fashion of
pageboy tresses curled in at the bottom."
("The Big Sleep")
Shasta war, wie wir später erfahren, während des vergangenen Jahres
nur eine der zahlreichen Liebschaften des Kapitalisten Wolfmann, der in letzter
Zeit zu der Erkenntnis gekommen zu sein schien, dass er seinen Reichtum weder
oder weniger moralisch fragwürdig erworben hatte. Es hat den Anschein, als
habe Mickey durch die Errichtung alternativer Wohnprojekte dazu beitragen
wollen, den von ihm in der Megalopolis Los Angeles angerichteten Schaden wieder
gut zu machen, weshalb er ausgeschaltet werden sollte. Shasta steht angeblich
vor dem Dilemma, dass ihr von der Ehefrau ihres großzügigen
Liebhabers eine ziemlich große Summe dafür angeboten worden ist,
diesen zu verraten. Wie viel Loyalität schuldet man jemandem, mit dem man
regelmäßig schläft, wenn der dafür die Miete für ein
nobles Appartement bezahlt? Doc pfeift dazu eine Melodie der "Beatles":
"Cant By Me Love"
(3, 9)
On Shasta Mickey wirklich geliebt hat, wird nicht beantwortet, als Doc sich
später, als Shasta wieder fort ist, die ungestellten Fragen selber stellt,
die er Shasta hätte stellen sollen, aber Liebe ist das Stichwort, denn es
ist eines der überbeanspruchten Schlagworte der HippieBewegung, das
sich auch Charles Manson zunutze gemacht hatte, als er seine Gang unter den
verwirrten HippieMädchen jener Tage rekrutiert hatte. Mickey Wolfmann
machte mit Shasta, wie wir später im 17. Kapitel erfahren, letztlich
nichts anderes als Charlie mit seinen Mädchen getan hatte, nur bezahlte er
dafür und schickte sie nicht zum Morden aus, aber bereits früh im
Roman verrät uns Pynchon in einer "unausgesprochenen Fussnote", was er von
diesem massiven Gebrauch des Wortes "Love" in jener Zeit hält:
"(
) that the word these days was being way too overused. Anybody with any
claim to hipness "loved" everybody, not to mention other useful applications,
like hustling people into sex activities they might not, given the choice, much
care to engage in."
(5)
"(...) dass das Wort heutzutage erheblich überstrapaziert wurde. Jeder,
der irgendwie als hip gelten wollte, "liebte" jeden, zu schweigen von anderen
nützlichen Anwendungsmöglichkeiten wie etwa der, dass sich Leute
damit zu sexuellen Aktivitäten drängen ließen, zu denen sie
vielleicht keine allzu große Lust hätten, wenn man ihnen die Wahl
ließe."
(13)
Mickey benutzte sein Geld, um sich Frauen zu kaufen. Charlie, der im März
1967 mit 35 Dollar aus dem Knast gekommen war, hatte dort andere "Taktiken"
gelernt. Der stellvertretende Staatsanwalt Vincent T. Bugliosi beschreibt
Mansons Taktik als Mischung aus dem Zuhälterjargon seiner Mitgefangenen
sowie scientologischen Techniken, die er ebenfalls hinter Gittern gelernt hatte.
"They were also young, naive, eager to believe, and, perhaps even more
important, belong. There were followers aplenty for any selfstyled guru.
It didnt take Manson long to sense this. In the underground milieu into
which hed stumbled, even the fact that he was an exconvict
conferred a certain status. Rapping a line of metaphysical con that borrowed as
much from pimping as joint jargon and Scientology, Manson began attracting
followers, almost all girls at first, then a few young boys."
(Vincent Bugliosi, Curt Gentry, "Helter Skelter", 164)
Ed Sanders sagt 1971, also noch sehr viel näher dran an den
tatsächlichen Geschehnissen, über Charlie:
"Es sind Hunderte von Anekdoten im Umlauf über den Manson von
HaightAshbury die meisten davon sind Glorifizierungen. Die
Wirklichkeit war anders; er war ein kleiner, redegewandter, schmieriger Kerl,
der sich mit seiner Gitarre an junge Mädchen heranmachte, die er mit
Gurugeschwätz und Mystizismen zu beeindrucken versuchte eine
Taktik, die damals in HaightAshbury mit Erfolg betrieben wurde."
(Ed Sanders, "The Family", 29)
Obwohl es zwei grundverschiedene Bücher über den MansonFall
sind, das eine von einem Staatsanwalt, das andere von einem Hippie geschrieben,
gibt es doch keine echten Widersprüche in der Beschreibung der Zeit und
der Umstände, keine wirklichen Unterschiede in der Wahrnehmung sowie der
moralischen Bewertung dessen, was geschehen war.
Manson kommt im Roman nicht als Figur vor, sein Fall wird lediglich einige Male
erwähnt, aber Pynchon benutzt diese reale Person aus der
"Hintergrundfolie" seines Romans, um zwei Romanfiguren daraus zu schaffen:
unseren Detektiv Larry Sportello sowie den Baulöwen Mickey Wolfmann. Der
wie Charlie kleingewachsene Doc möchte die Frauen gerne so benutzen (so
gut wie jede Frau im Roman löst bei ihm eine Erektion aus) wie jener, um
sich in der willigen Hippiewelt sexuell auszutoben, Mickey hält sich mit
seinem Geld einen kleinen "Harem", der seinen jeweiligen sexuellen
Wünschen nachkommt.
Der Name "Shasta" verweist auf den Mount Shasta, einen Vulkan in
Nordkalifornien, mit dem ein gewisser Mythos verbunden ist. Der Legende nach
war der Berg der Zufluchstort überlebender Lemurier, die nach dem Untergang
ihres Kontinents im Pazifik dort Zuflucht fanden. Die LemuriaHypothese,
heute durch die Plattentektonik abgelöst, hat wie der
"Atlantis"Mythos die Fantasie der Menschen und der Science Fiction
Autoren bis hin zu "Perry Rhodan" inspiriert. Und für Mythen war im
HippieKosmos immer Platz, über den LemuriaMythos wird im 7.
Kapitel noch zu reden sein.
Rein zufällig hat Doc eine Tante, die im Immobiliengeschäft ist und
ihm Informationen über Mickey Wolfmann geben kann. Der Mann ist zwar Jude,
möchte aber gerne ein Nazi sein und hält sich daher eine Motorradgang
mit ehemaligen Mitgliedern der "Arischen Bruderschaft" als Leibwache. Auch
Charles Manson hatte immer wieder probiert, sich der kalifornischen Biker als
Privatarmee zu bedienen und auch er war ein Fan von Adolf Hitler:
"An apparently important influence on Manson, in both precept and example, was a
dead man: Adolf Hitler. Manson looked up to Hitler and spoke of him often. He
told his followers that "Hitler had the best answer to everything" and that he
was "a tunedin guy who leveled the karma of the Jews." Manson saw himself
as no less a historical figure, a leader who would not only reverse the karma
of he blacks but level his own Aryan racehis allwhite,
allAmerican family.
There were both surface and substantive parallels between Hitler and Manson.
The births of both men are shrouded in mystery; both were little men, both
suffered deep wounds in their youth, the psychological scars at least
contributing to, if not causing, their deep hatred for society, both suffered
the stigma of illegitimacy, in Mansons case because he himself was a
bastard, in Hitlers because his father was.
Both were vagrant wanderers; both were frustrated, and rejected, artists; both
liked animals more than people; both were deeply engrossed in the occult, both
had others commit their murders for them.
Both were racists; yet there is some evidence that both also believed they
carried the blood of the very people they despised. Many historians believe
that Hitler was secretly obsessed with the fear that he had a Jewish ancestor.
If Mansons prison records are correct, he may have believed his father
was black.
Both surrounded themselves with bootlicking slaves; both sought out the
weaknesses of others, and used them; both programmed their followers through
repetition, repeating the same phrases over and over; both realized and
exploited the psychological impact of fear.
Both had a favorite epithet for those they hated: Hitlers was
"Schweinehund,"
Mansons was "pigs."
Both had eyes which their followers described as “hypnotic”; beyond that,
however, both had a presence, a charisma, and a tremendous amount of personal
persuasive power. Generals went to Hitler intent on convincing him that his
military plans were insane, they left true believers. Dean Morehouse went to
Spahn Ranch to kill Manson for stealing his daughter, Ruth Ann; and ended up on
his knees worshipping him.
Both had an incredible ability to influence others.
Both Mansons and Hitlers followers were able to explain away the
monstrous acts their leaders committed by retreating into psychological
abstractions.
(Bugliosi, 47374)
Links
Inherent ViceWiki Chapter 1
Raymond Chandler "The Big Sleep" (1939)
Raymond Chandler "The Long Goodbye" (1953)
Country Joe McDonald "IFeelLikeImFixintoDie Rag"
bei Youtube.
The Beatles "Cant Buy Me Love"
bei Youtube.
Mount Shasta The Lemurian Connection
Lemuria bei Wikipedia
Lemuria bei "Perrypedia"
Charlie Manson.com
"Aryan Brotherhood"
bei Wikipedia.
Literatur
Vincent Bugliosi, Curt Gentry "Helter Skelter, The True Story of the
Manson Murders", W. W. Norton & Company, New York 1974.
Ed Sanders "The Family, Die Geschichte von Charles Manson und seiner
StrandBuggy Streitmacht", das neue buch, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg,
Dezember 1972.
Raymond Chandler "Der große Schlaf", Diogenes, Zürich 1974.
Raymond Chandler "Der lange Abschied", Diogenes, Zürich 1975.
Thomas Pynchon "Vineland", Rowohlt, Reinbek 1993.
Thomas Pynchon "Inherent Vice", The Penguin Press, New York 2009.
Thomas Pynchon "Natürliche Mängel", Rowohlt, Hamburg 2010.
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