An Army of Lovers can be Beaten — Thomas Pynchons "Inherent Vice"

— The Penguin Press, New York 2009, Rowohlt, Hamburg 2010

"Under the paving–stones, the beach."
—Graffito, Paris, May 1968

"Under the chocolate, the bananas!"
—Graffito, P–List, September 2009

Chapter 1 (1–18) (7—29)

Die Einleitung, eine typische Raymond Chandler–Situation: der Privatdetektiv Larry ‘Doc’ Sportello erhält einen Besuch von einer jungen Dame (in diesem Fall sogar eine Exfreundin des Detektivs, Shasta Fay Hepworth), die ihren reichen Geliebten Mickey Wolfmann, einen Grundstückshai, vermisst und vermutet, dass dieser einer Intrige seiner Ehefrau (und deren Freund) zum Opfer gefallen ist:

"Doc hadn’t seen her for over a year. Nobody had. Back then it was always sandals, bottom half of a flower–print bikini, faded Country Joe & the Fish T–shirt. Tonight she was all in flatland gear, hair a lot shorter than he remembered, looking just like she swore she’d never look." (1)

"Heute Abend war sie von Kopf bis Fuß in Flachlandklamotten gekleidet und trug das Haar erheblich kürzer, als er es in Erinnerung hatte, dabei hatte sie geschworen, dass sie nie so aussehen würde." (7)

Das "Flachland", das war für die Hippies die bürgerliche Welt, zu der sie einen Gegenentwurf liefern wollten, gegen den Krieg im Allgemeinen (und den Vietnam–Krieg im Speziellen), gegen Umweltzerstörung, Spekulation und Ausbeutung. Im Roman steht dafür das Wort "Strand", unter Bezugnahme auf die Pariser Mairevolte von 1968 und unter Bezugnahme darauf, dass die Hippies von Los Angeles die Strandgemeinden wie Redondo Beach, Manhattan Beach (wo Pynchon während der Zeit gelebt hatte, als er "Gravity’s Raibow" schrieb) sowie das fiktive "Gordita Beach" des Romans dem Leben in der Stadt vorzogen.

Dieses verblichene T-Shirt ist wirklich die einzige, indirekte Reminiszenz an das Woodstock–Festival in diesem Roman über die späte Hippeära in der letzten Märzwoche des Jahres 1970 in Los Angeles, denn inzwischen war etwas geschehen, das die Wahrnehmung der Gegenkultur in der bürgerlichen Gesellschaft grundlegend verändert hatte: die Manson–Morde. Die zuvor als harmlos–verrückt angesehenen Hippies, die sich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon längst von ihren ursprünglichen politischen Ansprüchen entfernt hatten und in ein drogengeschwängertes Privatleben geflüchtet waren, erschienen mit einem Mal als potentiell bedrohlicher Kult.

Zum Zeitpunkt des Woodstock–Festivals (18. bis 20. August 1969) waren die Tate/La Bianca–Morde (8. bis 10. August) zwar bereits geschehen, wurden zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen aber noch nicht mit den Hippies in Verbindung gebracht. Dies änderte sich erst, nachdem Charles Manson und seine Grusel–Mädchen Mitte Oktober 1969 verhaftet worden waren. Am 1. Dezember 1969 verkündete der Polizeichef von Los Angeles in einer Pressekonferenz, dass das LAPD den Fall "gelöst" habe. Der eigentliche Prozess begann dann am 15. Juni 1970 und endete am 25. Januar 1971 mit den Schuldsprüchen (Tod in der Gaskammer) für Charles Manson, Susan Atkins, Patricia Krenwinkel und Leslie Van Houten. Die Todesstrafe wurde jedoch weder bei Manson noch an einem der Mädchen vollstreckt.

In der Zeitspanne zwischen dem 23. März und Anfang Mai 1970, die Pynchon für die Romanhandlung umgewählt hat, hatte der Prozess noch nicht begonnen, und in der Öffentlichkeit und bei der Polizei herrschte natürlich noch die Paranoia des relativen Nichtwissens über die wahren Hintergründe der Verbrechen, so dass der Spekulation, der Verdächtigung und der Bespitzelung Tür und Tor geöffnet war...in dieser "Zwischenzeit" bewegt sich der Roman, und es ist nicht so ganz klar, ob er sich nicht auch in ein paar andere Dimensionen hinein bewegt.

Mit dem Spitzelproblem in der Hippiebewegung hatte es Pynchon ja bereits in seinem Roman "Vineland", und er greift das Thema in "Inherent Vice" wieder auf, als wolle er uns zeigen, wie es dahin kommen konnte, dass sich die "Bewegung" schließlich selbst verraten hat. Der Leser erfährt erst spät im Roman (351, 455), was der Titel bedeutet, nämlich eine Besonderheit des marinen Versicherungsrechts, die darin besteht, dass die Schiffsversicherung keine "inhärenten Mängel" des transportierten Gutes oder des Schiffes selbst umfasst. Man kann Eier nicht dagegen versichern, dass sie während des Transports zerbrechen. Eine weitere mögliche Bedeutung, die sogleich von Doc Sportello angeboten wird, ist der Begriff "Erbsünde", so dass wir vor der Frage stehen, welchen dieser Bedeutungen des Titels für den Roman eine besondere Rolle spielt, ob es vielleicht noch weitere Deutungen gibt oder ob eine Kombination beider Bedeutungen nicht vielleicht eine Antwort gibt. Wenn man Eier während des Transports nicht gegen das Zerbrechen versichern kann und wenn Menschen moralisch versagen, dann gibt es auch keine Versicherung dagegen, dass nicht auch eine eigentlich gutgemeinte "Bewegung", deren Mitglieder sich durch den Gebrauch illegaler Drogen erpressbar machen, mittels eines weitverbreiteten Spitzeltums durch Politik und Polizei zu Fall gebracht wird. Oder wie es schon in "Gravity’s Rainbow" heißt: "AN ARMY OF LOVERS CAN BE BEATEN".

Shasta, die jetzt so aussieht, wie sie niemals aussehen wollte, dokumentiert ihre Abkehr von den ursprünglichen Idealen bereits durch ihr Äußeres. Die "Vorstellung" erinnert allerdings auch an Raymond Chandler, wo es zu Beginn von "Der große Schlaf" heisst:

"Sie hatte hübsche lohfarbenes Haar, das viel kürzer geschnitten war, als es die derzeitige Mode mit ihren eingerollten Pagenkopffransen verlangte." (Raymond Chandler, "Der große Schlaf", 6)

"Her hair was a fine tawny wave cut much shorter than the current fashion of pageboy tresses curled in at the bottom." ("The Big Sleep")

Shasta war, wie wir später erfahren, während des vergangenen Jahres nur eine der zahlreichen Liebschaften des Kapitalisten Wolfmann, der in letzter Zeit zu der Erkenntnis gekommen zu sein schien, dass er seinen Reichtum weder oder weniger moralisch fragwürdig erworben hatte. Es hat den Anschein, als habe Mickey durch die Errichtung alternativer Wohnprojekte dazu beitragen wollen, den von ihm in der Megalopolis Los Angeles angerichteten Schaden wieder gut zu machen, weshalb er ausgeschaltet werden sollte. Shasta steht angeblich vor dem Dilemma, dass ihr von der Ehefrau ihres großzügigen Liebhabers eine ziemlich große Summe dafür angeboten worden ist, diesen zu verraten. Wie viel Loyalität schuldet man jemandem, mit dem man regelmäßig schläft, wenn der dafür die Miete für ein nobles Appartement bezahlt? Doc pfeift dazu eine Melodie der "Beatles":

"Can’t By Me Love" (3, 9)

On Shasta Mickey wirklich geliebt hat, wird nicht beantwortet, als Doc sich später, als Shasta wieder fort ist, die ungestellten Fragen selber stellt, die er Shasta hätte stellen sollen, aber Liebe ist das Stichwort, denn es ist eines der überbeanspruchten Schlagworte der Hippie–Bewegung, das sich auch Charles Manson zunutze gemacht hatte, als er seine Gang unter den verwirrten Hippie–Mädchen jener Tage rekrutiert hatte. Mickey Wolfmann machte mit Shasta, wie wir später im 17. Kapitel erfahren, letztlich nichts anderes als Charlie mit seinen Mädchen getan hatte, nur bezahlte er dafür und schickte sie nicht zum Morden aus, aber bereits früh im Roman verrät uns Pynchon in einer "unausgesprochenen Fussnote", was er von diesem massiven Gebrauch des Wortes "Love" in jener Zeit hält:

"(…) that the word these days was being way too overused. Anybody with any claim to hipness "loved" everybody, not to mention other useful applications, like hustling people into sex activities they might not, given the choice, much care to engage in." (5)

"(...) dass das Wort heutzutage erheblich überstrapaziert wurde. Jeder, der irgendwie als hip gelten wollte, "liebte" jeden, zu schweigen von anderen nützlichen Anwendungsmöglichkeiten wie etwa der, dass sich Leute damit zu sexuellen Aktivitäten drängen ließen, zu denen sie vielleicht keine allzu große Lust hätten, wenn man ihnen die Wahl ließe." (13)

Mickey benutzte sein Geld, um sich Frauen zu kaufen. Charlie, der im März 1967 mit 35 Dollar aus dem Knast gekommen war, hatte dort andere "Taktiken" gelernt. Der stellvertretende Staatsanwalt Vincent T. Bugliosi beschreibt Mansons Taktik als Mischung aus dem Zuhälterjargon seiner Mitgefangenen sowie scientologischen Techniken, die er ebenfalls hinter Gittern gelernt hatte.

"They were also young, naive, eager to believe, and, perhaps even more important, belong. There were followers aplenty for any self–styled guru. It didn’t take Manson long to sense this. In the underground milieu into which he’d stumbled, even the fact that he was an ex–convict conferred a certain status. Rapping a line of metaphysical con that borrowed as much from pimping as joint jargon and Scientology, Manson began attracting followers, almost all girls at first, then a few young boys." (Vincent Bugliosi, Curt Gentry, "Helter Skelter", 164)

Ed Sanders sagt 1971, also noch sehr viel näher dran an den tatsächlichen Geschehnissen, über Charlie:

"Es sind Hunderte von Anekdoten im Umlauf über den Manson von Haight–Ashbury — die meisten davon sind Glorifizierungen. Die Wirklichkeit war anders; er war ein kleiner, redegewandter, schmieriger Kerl, der sich mit seiner Gitarre an junge Mädchen heranmachte, die er mit Gurugeschwätz und Mystizismen zu beeindrucken versuchte — eine Taktik, die damals in Haight–Ashbury mit Erfolg betrieben wurde." (Ed Sanders, "The Family", 29)

Obwohl es zwei grundverschiedene Bücher über den Manson–Fall sind, das eine von einem Staatsanwalt, das andere von einem Hippie geschrieben, gibt es doch keine echten Widersprüche in der Beschreibung der Zeit und der Umstände, keine wirklichen Unterschiede in der Wahrnehmung sowie der moralischen Bewertung dessen, was geschehen war.

Manson kommt im Roman nicht als Figur vor, sein Fall wird lediglich einige Male erwähnt, aber Pynchon benutzt diese reale Person aus der "Hintergrundfolie" seines Romans, um zwei Romanfiguren daraus zu schaffen: unseren Detektiv Larry Sportello sowie den Baulöwen Mickey Wolfmann. Der wie Charlie kleingewachsene Doc möchte die Frauen gerne so benutzen (so gut wie jede Frau im Roman löst bei ihm eine Erektion aus) wie jener, um sich in der willigen Hippiewelt sexuell auszutoben, Mickey hält sich mit seinem Geld einen kleinen "Harem", der seinen jeweiligen sexuellen Wünschen nachkommt.

Der Name "Shasta" verweist auf den Mount Shasta, einen Vulkan in Nordkalifornien, mit dem ein gewisser Mythos verbunden ist. Der Legende nach war der Berg der Zufluchstort überlebender Lemurier, die nach dem Untergang ihres Kontinents im Pazifik dort Zuflucht fanden. Die Lemuria–Hypothese, heute durch die Plattentektonik abgelöst, hat wie der "Atlantis"–Mythos die Fantasie der Menschen und der Science Fiction Autoren bis hin zu "Perry Rhodan" inspiriert. Und für Mythen war im Hippie–Kosmos immer Platz, über den Lemuria–Mythos wird im 7. Kapitel noch zu reden sein.

Rein zufällig hat Doc eine Tante, die im Immobiliengeschäft ist und ihm Informationen über Mickey Wolfmann geben kann. Der Mann ist zwar Jude, möchte aber gerne ein Nazi sein und hält sich daher eine Motorradgang mit ehemaligen Mitgliedern der "Arischen Bruderschaft" als Leibwache. Auch Charles Manson hatte immer wieder probiert, sich der kalifornischen Biker als Privatarmee zu bedienen und auch er war ein Fan von Adolf Hitler:

"An apparently important influence on Manson, in both precept and example, was a dead man: Adolf Hitler. Manson looked up to Hitler and spoke of him often. He told his followers that "Hitler had the best answer to everything" and that he was "a tuned–in guy who leveled the karma of the Jews." Manson saw himself as no less a historical figure, a leader who would not only reverse the karma of he blacks but level his own Aryan race—his all–white, all–American family.
There were both surface and substantive parallels between Hitler and Manson.
The births of both men are shrouded in mystery; both were little men, both suffered deep wounds in their youth, the psychological scars at least contributing to, if not causing, their deep hatred for society, both suffered the stigma of illegitimacy, in Manson’s case because he himself was a bastard, in Hitler’s because his father was.
Both were vagrant wanderers; both were frustrated, and rejected, artists; both liked animals more than people; both were deeply engrossed in the occult, both had others commit their murders for them.
Both were racists; yet there is some evidence that both also believed they carried the blood of the very people they despised. Many historians believe that Hitler was secretly obsessed with the fear that he had a Jewish ancestor. If Manson’s prison records are correct, he may have believed his father was black.
Both surrounded themselves with bootlicking slaves; both sought out the weaknesses of others, and used them; both programmed their followers through repetition, repeating the same phrases over and over; both realized and exploited the psychological impact of fear.
Both had a favorite epithet for those they hated: Hitler’s was "Schweinehund," Manson’s was "pigs."
Both had eyes which their followers described as “hypnotic”; beyond that, however, both had a presence, a charisma, and a tremendous amount of personal persuasive power. Generals went to Hitler intent on convincing him that his military plans were insane, they left true believers. Dean Morehouse went to Spahn Ranch to kill Manson for stealing his daughter, Ruth Ann; and ended up on his knees worshipping him.
Both had an incredible ability to influence others.
Both Manson’s and Hitler’s followers were able to explain away the monstrous acts their leaders committed by retreating into psychological abstractions.
(Bugliosi, 473–74)

Links

Inherent Vice–Wiki Chapter 1

Raymond Chandler – "The Big Sleep" (1939)

Raymond Chandler – "The Long Goodbye" (1953)

Country Joe McDonald — "I–Feel–Like–I’m–Fixin’–to–Die Rag" bei Youtube.

The Beatles – "Can’t Buy Me Love" bei Youtube.

Mount Shasta – The Lemurian Connection

Lemuria bei Wikipedia

Lemuria bei "Perrypedia"

Charlie Manson.com

"Aryan Brotherhood" bei Wikipedia.

Literatur

Vincent Bugliosi, Curt Gentry — "Helter Skelter, The True Story of the Manson Murders", W. W. Norton & Company, New York 1974.
Ed Sanders — "The Family, Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand–Buggy Streitmacht", das neue buch, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, Dezember 1972.
Raymond Chandler — "Der große Schlaf", Diogenes, Zürich 1974.
Raymond Chandler — "Der lange Abschied", Diogenes, Zürich 1975.
Thomas Pynchon — "Vineland", Rowohlt, Reinbek 1993.
Thomas Pynchon — "Inherent Vice", The Penguin Press, New York 2009.
Thomas Pynchon — "Natürliche Mängel", Rowohlt, Hamburg 2010.

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