The Luddite Novel

oder:
Darf man Maschinenstürmerei das Wort reden?

Thomas Pynchon zu 1984, Luddismus, Frankenstein und welche Lehren die Welt nach 1945 aus all diesem für die Zukunft ziehen kann oder nicht.

Worte des Meisters zu seinem Werk sind rar, und so muß man sich die Brosamen aus seinen wenigen anderen theoretischen Schriften saugen, neben der Einleitung zu Slow Learner ist hier vor allem der Essay Is it OK to be a Luddite? zu nennen. Dieser Aufsatz erschien erstmals am 28. Oktober 1984 im Literaturteil der New York Times und hat, in my humble opinion, eine große Bedeutung im Hinblick auf Gravity’s Rainbow.

Pynchon erinnert zu Beginn seines Essays daran, daß 1984 ein Jahr mit einer doppelten Symbolik im Hinblick auf sein Thema ist. Da ist zum einen die unausweichliche Referenz an George Orwell, an die jeder denkt, der die Jahreszahl hört. Aber da ist auch, und das ist – und war auch 1984 – sicherlich nicht mehr in jedermanns Bewußtsein, die Erinnerung an den 25. Jahrestag von Charles Percy Snows (Baron Snow of Leicester, 1905-1980) berühmte Vorlesung von den zwei Kulturen: The Two Cultures and the Scientific Revolution, die mit der (sicherlich simplifizierten) Warnung ins öffentliche Bewußtsein gedrungen ist, daß das intellektuelle Leben im Westen dabei sei, sich in eine "literarische" und eine "wissenschaftliche" Fraktion aufzuspalten. Die „literarischen Intellektuellen", die sich nicht mit der „naturwissenschaftlichen Kultur" befassen wollen oder können, sind außerstande, die Industrielle Revolution zu verstehen und daher nach Snow "natural Luddites."

Nun täte man Pynchon ganz sicher unrecht, wollte man ihn als Maschinenstürmer abtun, weil er vor den Auswirkungen der ungehinderten Machtausübung der Technologiekartelle auf unser aller Leben zu warnen scheint. Aber wie er in seinem hervorragenden Essay scheibt, war das Thema auch 25 Jahre nach Snows «Mahnung» aktuell und ist nach meiner Ansicht heute, wo wir am Anfang der industriellen Nutzung des menschlichen Genoms stehen, eindringlicher und wichtiger denn je.

Niemand außer dem «schlauen Schlumpf» (Brainy Smurf) will, so Pynchon 1984 in seiner unnachahmlichen Art, heutzutage noch als ‘Intellektueller’ bezeichnet werden, aber Pynchon erweitert dieses «Label» zu "people who read and think" und dann klingt es längst nicht mehr so negativ. Aber was sind eigentlich Ludditen? Und macht Lesen wirklich dumm und gewalttätig, eine Meinung, die zumeist von gewöhnlichen Ökonomen vertreten wird, die ein naturgegebenes Interesse daran haben, die von ihnen ausgebeuteten Lohnabhängigen dumm zu halten.

Wenn man die Eingangs gestellte Frage beantworten (ob Maschinenstürmerei ok ist) will, so muß man zuerst einige andere Fragen klären, nämlich was überhaupt sind (oder waren) Ludditen und Luddismus und in welchem historischen und sozialen Kontext tauchen sie auf?

"Being called a Luddite is another matter. It brings up questions such as, is there something about reading and thinking that would cause or predispose a person to turn Luddite? Is it O.K. to be a Luddite? And come to think of it, what is a Luddite, anyway?"
In einem historischen Exkurs erläutert Pynchon die Entstehung des Begriffs Luddismus. Zwischen 1811 und 1816 machten luddistische Banden England unsicher, deren Ziel die Zerstörung der mechanischen Webstühle war, die in der Textilindustrie verwendet wurden. Von Freund und Feind als solche bezeichnet, galt die Treue und Gefolgschaft der Luddisten nicht dem englischen König, sondern ihrem eigenen "King Ludd," eine bemerkenswerte emanzipatorische Leistung zu einer Zeit, als der Herrschaftsbegriff im allgemeinen noch religiös begründet wurde.

Die Namensgebung geht auf einen gewissen Ned Lud zurück, der 1779 in Leicestershire wutentbrannt zwei Strickmaschinen zerstörte, eine Tat, die sprichwörtlich wurde, wann immer frühe Opfer der Industrialisierung ihrer Wut Luft machten, die immerhin daher rührte, daß sie von der Maschine um Lohn und Brot gebracht wurden, in Zeiten ohne jegliche soziale Absicherung eine durchaus nachzuvollziehende Empörung.

Pynchon weist jedoch darauf hin, daß der Webrahmen bereits seit 1589 verbreitet war, Ned Luds Raserei und die luddistischen Banden, die später seinen Namen benutzten, also gar nicht gegen eine neue Technologie gerichtet waren, sondern gegen die Auswirkungen von Technologie überhaupt und die Leute brauchten keinen Marx, um diese zu verstehen.

"The knitting machines which provoked the first Luddite disturbances had been putting people out of work for well over two centuries. Everybody saw this happening – it became part of daily life. They also saw the machines coming more and more to be the property of men who did not work, only owned and hired. It took no German philosopher, then or later, to point out what this did, had been doing, to wages and jobs."
Das Ned Lud zum Namensgeber der sehr viel späteren Luddisten wurde, hat nach Pynchons Auffassung vielmehr mit seiner Qualität als "dedicated Badass" als mit der Sache an sich zu tun.
"he Is Bad, and he is Big. Bad meaning not morally evil, necessarily, more like able to work mischief on a large scale. What is important here is the amplifying of scale, the multiplication of effect."
Was zwischen 1812 und 1816 stattfand, war nach Pynchons Ansicht Klassenkampf, und einer der Sympathisanten war der Dichter Lord Byron (1788-1824), seit 1809 immerhin Mitglied des Oberhauses, aber auch außer Landes, in der Schweiz und Italien lebend, der den Luddisten ein, posthum veröffentlichtes, kleines Gedicht gewidmet hat, das Pynchon ans Ende seines Essays stellt:
"As the Liberty lads o’er the sea
Bought their freedom, and cheaply, with blood,
So we, boys, we
Will die fighting, or live free,
And down with all kings but King Ludd!"
Byron, so berichtet Pynchon weiter, hatte den Sommer des Jahres 1816 in der Villa Diodati am Genfer See mit den Shelleys verbracht, wie auch Mary Shelley in ihrer Einführung zu Frankenstein (1818, 1831) erzählt, und angesichts des schlechten Wetters den Vorschlag gemacht, daß sich alle Anwesenden eine Geistergeschichte ausdenken. Seiner Anregung und den in den darauffolgenden Tagen stattfindenden Gesprächen Byrons und Percy Shelleys über den Darwinismus ist die Entstehung von Mary Shelleys Romans zu verdanken, der, so Pynchon «Luddite novel» schlechthin:
"If there were such a genre as the Luddite novel, this one, warning of what can happen when technology, and those who practice it, get out of hand, would be the first and among the best."
Pynchon definiert also den Begriff der «Luddite novel» als Warnung davor, was geschehen kann, wenn Technologie und diejenigen, die sie gebrauchen, außer Kontrolle geraten.

Auf modernere Zeiten bezogen bezweifelt er allerdings, daß "(…) mainframes attract the same hostile attention as knitting frames once did (…)," verweist aber alle Luddisten auf den Zeitpunkt, wenn die Entwicklungslinien von Künstlicher Intelligenz, Molekularbiologie und Robotik zusammenlaufen:

"If our world survives, the next great challenge to watch out for will come – you heard it here first – when the curves of research and development in artificial intelligence, molecular biology and robotics all converge. Oboy."

Links

Is it OK to be a Luddite? – at the New York Times
Is it OK to be a Luddite? – Reprint at Spermatikos Logos
Is it OK to be a Luddite? – Reprint at Vheissu

The Neo–Luddite Reaction — dies ist eine wirklich großartige Webseite mit allen Links, die man benötigt, um sich hinreichend zu informieren.

The Ballad of Ned Ludd

"Life was better before sliced bread."

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© Otto Sell – Thursday, August 03, 2000
Last update Thursday, December 02, 2004

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