Thomas Pynchon

Sterblichkeit und Erbarmen in Wien

übersetzt von Jürg Laederach

(With a little help from Camilla Nielsen, Vienna)

Manuskripte, Zeitschrift für Literatur, 23. Jahrgang,
80. Heft der Gesamtfolge, Graz 1983, pp. 3-11.

Mortality and Mercy in Vienna

Just als Siegel bei der Adresse, die Rachel ihm gegeben hatte, angelangt war, fing es an zu regnen. Den ganzen Tag hatten tiefliegende und zackig silhouettierte Wolken tief über Washington gehangen und den Gymnasiasten auf ihren Abschlußreisen die Aussicht von der Spitze des Monumentes aus ruiniert, ließen kurze Regengüsse prasseln, ließen die Touristen quieken und fluchen und trieben sie auf der Suche nach Schutz hinein, trübten das zarte Rosa der Kirschblüten, die soeben aufgesprungen waren. Die Adresse war ein kleines Miethaus an einer ruhigen Straße in der Nähe des Dupont Circle, und Siegel tauchte in die Eingangshalle rein und damit aus dem Regen raus, und klammerte sich an seinen Flachmann mit Scotch, den er trug, als wär’s ein Staatsgeheimnis. Zeiten hatte es gegeben — während des vergangenen Jahres, an der Avenue Kleber oder der Viale delle Tenne di Caracalla — wo eine Aktentasche an der Stelle gesessen hatte, wo der Flachmann jetzt saß, und derselbe tweedbekleidete Arm hatte sich an sie gepreßt, im Kampf mit Regen, mit einem Termin oder irgendeinem bürokratischen Zwang. Und fast jedesmal, besonders wenn er von der vorangegangenen Nacht einen Kater nachschleppte oder wenn eine Frau, die Aussagen jüngerer Diplomaten zufolge eine sichere Sache war, sich plötzlich als abgesicherte Sache herausstellte, so daß das Ganze schlußendlich nicht einmal die paar Drinks wert gewesen war, pflegte er seinen Kopf zu schütteln wie ein Betrunkener, der nicht mehr doppelt sehen möchte, da er sich plötzlich des Gewichts der Aktentasche und der Bedeutungslosigkeit ihres Inhalts bewußt geworden war, sowie auch der Dummheit dessen, was er hier zu tun im Begriff war, weit weg von Rachel, auf einem finsteren, aber klar bezeichneten Weg durch einen Dschungel von Pfändungen und Beeidungen und juristischen Aussagen; er fragte sich, warum er in seinen ersten Tagen beim Untersuchungsausschuß sich überhaupt je als sowas wie einen Wunderheiler hatte betrachten müssen, wenn er ja doch immer gewußt hatte, daß für einen Wunderheiler — ja, tatsächlich für einen Propheten, denn wenn man das Ganze ernst nahm, dann mußte man beides sein — Abrechnungstabellen oder juristisches Flechtwerk entfallen, und daß man in dem Moment, wo man sich auf so etwas einläßt, weniger wird — ein Arzt oder ein Wahrsager. Als er dreizehn gewesen war, etwas weniger als einen Monat nach seiner Bar Mizwa, war seine Kusine Miriam an Krebs gestorben, und vielleicht hatte damals — als er auf einem orange Lattenrost in einem verdunkelten Raum weit über dem Grand Concourse Schiwa saß und hager und, obschon erst dreizehn, ein bißchen wie ein John-Buchan-Held aussah und starr auf den symbolischen Rasierklingenschnitt auf halber Höhe seiner schwarzen Krawatte starrte — vielleicht hatte diese Einsicht von da an sich allmählich erweitert, weil er sich noch immer an Miriams Mann erinnerte, wie er Zeit, den Arzt, und das für die Operation hinausgeworfene Geld sowie die ganze American Medical Association verfluchte und enthemmt und schamlos in seinem düsteren heißen Zimmer hinter den heruntergelassenen Jalousien weinte, und dies hatte Siegel als Jungen so verstört, daß er, als sein Bruder Mike nach Yale fürs erste Medizinsemester gegangen war, in Angst schwebte, etwas werde schieflaufen und Mike, den er liebte, werde schließlich bloß, genau wie Zeit, ein Arzt werden und eines Tages ebenfalls von einem desillusionierten Ehemann in Leihkleidern in einem dämmrig-zwielichtigen Schlafzimmer verflucht werden. Deshalb stand er irgendwo auf der Straße herum, bewegte sich nicht, hängte sich an die Aktentasche und dachte über Rachel nach, welche barfuß einen Meter fünfundvierzig Zentimeter maß, einen bleichen und schmalen Hals hatte, einen Modigliani-Hals, deren Augen nicht spiegelbildlich dieselben, sondern beide gleich schräggeschlitzt waren, dunkelbraun fast bis zur Unergründlichkeit, und nach einer Weile pflegte er wieder an der Oberfläche aufzutauchen und sich zu ärgern, daß er sich mit diesem Zeug abgab, wo die Dokumente in der Mappe schon seit einer Viertelstunde auf dem Büro hätten sein müssen; und merkte widerwillig, daß das Rennen gegen die Zeit, das Bewußtsein, ein unerhebliches Rädchen im Betrieb zu sein, der "elan" — ein beinahe schurkischer — des in die Untersuchungskommission eingebrachten Playboy-Ambiente, das mit seinem Habitus eines britischen Stabsoffiziers gut zusammenging — und sogar das Planen und Gegenplanen zwischen den Abteilungen, das sich um zwei Uhr früh in Jazzkellern, in Mietpensionen hinter Brandy und Soda fortsetzte, letztlich höchst aufregend waren. Und diese bluesig vibrierenden Phasen kamen ihm überhaupt nur, wenn er in der Nacht zuvor, um einem Kater vorzubeugen, keine Vitamin-B-Tabletten genommen hatte. Meistens stand der hellhäutige und buschig-schwänzige Siegel selbstbewußt da, und sodann betrachtete er die bluesig-aufgeladenen Tage bloß als kurze Verirrungen. Weil es nämlich, betrachtete man es einmal ehrlich, Spaß machte, Positionsvorteile zu ergattern. In der Armee hatte er nach der goldenen Regel "fick den Spieß, allbevor er dich ficket" gelebt; auf dem College hatte er später Mahlzeitencoupons gefälscht, Protestmeuten und Jagden auf Mädchenhöschen angefeuert, die Uni-Meinung durch die Schulzeitung manipuliert; und dies war seine mütterlicherseits ererbte Seite, von einer Mutter her, die im Alter von neunzehn eines Nachts irgendwo in Teufels Küche in einer Eisenbahnwohnung mit ihrer Seele gerungen und, halb hinüber vom Schmugglerbier, Thomas dem Aquinaten abgeschworen hatte, aus der katholischen Kirche ausgetreten war; ihren Gatten pflegte sie zufrieden anzugrinsen und von ihm als einem unberührten Tölpel zu sprechen, der gegen ihre weibliche List nie die mindeste Chance gehabt habe, und Siegel den Rat zu geben, nie eine Schikse zu heiraten, sondern sich ein ruhig nettes jüdisches Mädchen zu finden, weil man da wenigstens beim Startschuß schon losgelaufen sein dürfe. Dafür hatte ihn sein Zimmerkollege in seinem zweiten Jahr am College Stephen getauft und ihn erbarmungslos wegen seiner stillen kleinen Jesuitenstimme gehänselt, welche ihn davor bewahrte, entweder herumgestoßen oder schuldbewußt oder ganz einfach trägergebnislos zu werden, wie es in Großmanns Augen bei vielen anderen jüdischen Boys der Schule der Fall zu sein schien. "Und dann, Großmann" hatte Siegel zurückgegeben, "bewahrt es mich auch davor, ein Schmock wie du zu sein." Großmann lachte und steckte seine Nase wieder in ein Lehrbuch. "Dies ist der Same deiner Vernichtung", murmelte er, "Das hohe Haus in sich uneins? Na weißte." Nuja, da stand er also, dreißig Jahre, und auf dem Weg, ein Karrierist zu werden, und sowas wie Vernichtung nicht sehr weit vorn im Kopf, vor allem weil er ihr weder einen Namen noch ein Gesicht geben konnte, es wären denn die von Rachel gewesen, und daran glaubte er nicht recht. Mit dem Flachmann unter dem Arm stieg er zwei Treppen hoch, und die paar Regentropfen, die ihn erwischt hatten, glänzten auf dem schäbigen Vlies seines Tweedmantels. Hoffentlich hatte sie um sieben gesagt — er war ziemlich sicher, aber es käme ungelegen, wenn er zu früh da wäre. Er drückte den Summer vor einer Tür, die 3 F sagte, und wartete. Drin schien alles ruhig, und er fragte sich gerade, ob sie nicht vielleicht um acht gesagt hatte, als die Tür aufging und ein wild aussehender, bärenstarker Mann mit bösartig drohenden Augenbrauen, in einem Tweedmantel und mit etwas, das wie ein Schweinefötus aussah, unter dem Arm dastand und ihn anstarrte, hinter ihm ein leeres Zimmer, und Siegel stellte höchst verärgert fest, daß er ins Fettnäpfchen getreten war und daß dreißig Jahre eine lange Zeit waren und daß dies womöglich die ersten Anzeichen seiner Senilität waren. Sie standen sich wie leicht verschwommene Spiegelbilder gegenüber — verschiedene Tweedmuster, Scotch-Flachmann und Schweinefötus, aber kein Größenunterschied — während Siegel in einer gemischten Empfindung aus Unbehagen und ehrfürchtiger Bewunderung steckte, und das Wort ‘Doppelgänger’ schwamm gerade obenauf in seinem Verstand, als die Augenbrauen des anderen sich zu Zwillingsparabeln hochzogen und er seine freie Hand ausstreckte und sagte: "Sie sind zu früh, aber kommen Sie rein. Ich bin David Lupescu." Siegel schüttelte ihm die Hand, stammelte seinen eigenen Namen, und der Zauber war gebrochen; er schaute sich den Gegenstand unter Lupescus Arm an und sah, daß es tatsächlich ein Schweinefötus war, roch den leisen Geruch von Formaldehyd und kratzte sich am Kopf. "Das tut mir aber leid, hatte gedacht, Rachel habe sieben gesagt." Lupescu lächelte unbestimmt und schloß die Tür hinter ihm. "Machen Sie sich keine Sorgen", sagte er, "ich muß das Ding da irgendwo abstellen." Er brachte Siegel zu einem Sessel und nahm von einem Tisch ein altmodisches Glas, dann einen Stuhl gleich daneben, schleppte den Stuhl zum Eingang dessen, was Siegel für die Küche hielt, stellte sich auf den Stuhl, nahm einen Reißnagel aus seiner Tasche, bohrte ihn durch die Nabelschnur des Schweinefötus und befestigte ihn am Rahmen über dem Eingang, hämmerte ihn mit dem Boden des Glases hinein. Vom Stuhl hüpfte er herunter, und über ihm schwang der Fötus gefährlich hin und her. Er schaute zu ihm hinauf. "Ich hoffe, der bleibt da", sagte er, drehte sich dann zu Siegel um. "Einnehmend, nicht wahr?" Siegel zuckte die Schultern "Dada-Ausstellung Paris, Weihnachtstag 1919", sagte Lupescu, "da benützte man so einen an Stelle des Mistelzweiges. Aber ich wette zehn zu eins, von dieser Gruppe bemerkt das keiner. Kennen Sie Paul Brennan? Der merkt’s nicht."

"Ich kenne niemanden", sagte Siegel, "ich bin eine Zeitlang out gewesen. Ich kam grad letzte Woche übern Atlantik zurück. Der ganze alte Haufen scheint sich verflüchtigt zu haben."

Lupescu steckte die Hände in die Tasche und schaute sich im Zimmer um. Er brütete. "Ich weiß", sagte er grimmig, "rasche Fluktuation. Aber die Typen bleiben immer konstant." Er ging zur Küche, schaute hinein, schritt zu den Glastüren zurück, drehte sich dann plötzlich um und schnellte einen Zeigefinger ausgestreckt auf Siegel zu. "Sie", brüllte er beinah, "Natürlich. Sie sind perfekt." Drohend schob er sich auf Siegel zu, stand riesengroß vor ihm. "Mon semblable", sagte Lupescu, "mon frere." Er starrte Siegel an. "Ein Zeichen", sagte er, "ein Zeichen, und die Erlösung." Siegel konnte die Alkoholwolken in Lupescus Atem riechen. "Darf ich um Entschuldigung bitten", sagte Siegel. Lupescu fing an im Raum umherzustapfen. "Nur ‘ne Zeitfrage", sagte er, "Heutabend. Klar. Warum. Warum nicht. Schweinefötus. Symbol. Gott, was für ein Symbol. Und jetzt. Freiheit. Erlösung", schrie er. "Genie. Flasche. Jahrhundert um Jahrhundert, bis Siegel, seines Zeichens Seelenfischer, den Korken ausm Flaschenhals zieht." Er fing an im Raum umherzurennen. "Regenmantel", sagte er und fischte einen Regenmantel vom Sofa, "Rasierzeug." Er verschwand einen Augenblick in der Küche, kam mit einer Tasche Toilettenzeug in der Hand zurück, trug den Regenmantel. Unter der Tür hielt er inne. "Gehört alles Ihnen", sagte er, "jetzt sind Sie der Gastgeber. Als Gastgeber sind Sie eine Dreifaltigkeit: (a) Empfänger von Gästen" — er zählte sie an seinen Fingern ab — "(b) ein Feind und (c) eine äußerliche Hypostasie für sie, nämlich, des göttlichen Leibes und Blutes."

"Warten Sie ‘nen Moment", sagte Siegel, "wo zum Teufel wollen Sie hin?"

"Das Draußen" sagte Lupescu, "aus dem Dschungel raus."

"Aber he, schauen Sie mal, das schaff ich nicht. Ich kenne ja niemanden von diesen Menschen."

"Gehören alle dazu", sagte Lupescu leichthin, "das werden Sie rasch genug mitkriegen." und war zur Tür hinaus und weg, ehe Siegel sich eine Antwort überlegen konnte. Zehn Sekunden später ging die Tür wieder auf und Lupescu steckte den Kopf herein und blinzelte. "Harr Kurtz — is tot", kündigte er eulenhaft an und verschwand. Siegel saß da und starrte auf den Fötus. "Beim Arsch des Teufels, was nun?", sagte er langsam. Er erhob sich und schlenderte quer durchs Zimmer zum Telefon und wählte Rachels Nummer. Als sie abhob, sagte er "Du hast ja feine Freunde."

"Wo bist du?" fragte sie. "Bin grad zurückgekommen", sagte Siegel erklärend. "Bin ich aber froh, daß du anrufst”, sagte Rachel, "ich hab dich in der Wohnung angerufen und du warst nicht da. Ich wollte dir noch sagen, daß die Schwester von Sallys Schwager, ein lieblicher kleiner Fratz, vierzehn, soeben zufällig aus 'nem Mädchenpensionat aus Virginia in die Stadt gekommen ist, und Sally ist mit Jeff ausgegangen, also muß ich hierbleiben und sie unterhalten, bis Sally zurückkommt, und bis ich hier wegkomme, werden die ganzen Spirituosen schon alle sein: Ich kenne Lupescus Einladungen."

"Du lieber Gott", sagte Siegel ärgerlich, "ist ja lächerlich. Wenn Lupescus Freunde ihm auch nur im geringsten ähneln, dann wird dieser Ort hier bald von einer Herde wütender Wahnsinniger überflutet, und ich kenn erst noch keinen. Und jetzt bleibst auch du noch weg."

"Naja, die Bande ist ganz nett", sagte sie, "vielleicht ein bißchen eigentümlich, aber ich glaub sie wird dir zusagen. Du solltest dableiben." Plötzlich wurde die Tür gewalttätig aufgetreten und herein schlingerte ein fetter blühender Jüngling in einem Seemannsanzug, der huckepack ein Mädchen auf dem Rücken trug. "Luupeehskuuh", schrie der Seemann, "wou bischt duh, duh ruhmähnischer Huränsoohn."

"Wart mal", sagte Siegel, "wie ging das genau?", fragte er den Seemann, der seinen Passagier auf dem Boden abgeladen hatte. "Mannomann ik sachte wos Luupeehskuuh", sagte der Seemann. "Gott", schwafelte er ins Telefon, "sie kommen, da sickern schon die ersten rein. Was soll ich tun, Rachel, die können nicht mal Englisch. Da steht so’n seemännisch wirkender Typ, der keine dem menschlichen Ohr geläufige Sprache spricht."

"Aber Schatz", lachte Rachel, "hör doch auf, dich wie ein Frontreporter aufzuführen. Wahrscheinlich ist das bloß Harry Duckworth, der kommt aus Alabama und hat einen charmanten südlichen Akzent. Mit dem wirst du glänzend auskommen, das hab ich im Gefühl. Ruf mich morgen an und erzähl mir alles, was passiert ist."

"Warte", sagte Siegel verzweifelt, aber sie hatte schon Adieu gesagt und aufgehängt. Da stand er mit dem toten Hörer in der Hand. Harvey Duckworth stampfte in den anderen Zimmern herum und brüllte nach Lupescu; und das Mädchen, sehr jung, mit langem schwarzen Haar und großen Ohrreifen, in Leibchen und Bluejeans — Siegel schien sie eine perfekte Parodie des Boheme-Girls der Vierzigerjahre — stand auf und schaute Siegel an. "Ich will ins Bett mit dir", artikulierte sie dramatisch, und auf einmal wurde Siegel fröhlicher. Er legte den Hörer auf die Gabel zurück und lächelte. "Tut mir leid", sagte er mildsüß, "aber Notzucht nach dem Strafgesetz und so, weißte. Willste einen Drink?" Ohne auf Antwort zu warten, ging er in die Küche und fand Duckworth, der auf dem Waschtrog saß und eine Weinflasche zu öffnen versuchte. Plötzlich schoß der Korken heraus und die Flasche glitt weg und Chianti spritzte über Duckworths ganzes Seemannskleid. "Gopfertammich", sagte Duckworth und starrte auf die Purpurflecken. "Bärmlicher Ginese konnicht mohl äine Floschn richtig mochn." Die Klingel ging und Siegel rief "Geh da mal hin, ja, mein Schöner", und las die Chianti-Flasche vom Boden auf. "Gibt ja noch mehr", sagte er aufmunternd. Langsam fühlte er sich heiter, es war nicht zu unterdrücken; eine gewisse Leichtigkeit im Kopf, was seinem Gefühl nach eines der ersten Stadien der Hysterie sein konnte, von dem er aber hoffte, es sei ein Rest jener alten Lässigkeit, die ihn in den vergangenen zwei Jahren in Europa am Leben erhalten hatte. Im anderen Zimmer hörte er etwas, das wie ein Chor brüllender Jungen klang und dreckige Limericks intonierte. Das Mädchen kam herein und sagte "Ach Gott, dies ist Brennan mit seinen Freunden."

"O du liebes Libsel", sagte Siegel, "die scheinen ja bei prächtiger Stimme." Waren sie auch tatsächlich. In seinem neuen und plötzlich friedlichen Zustand schien es Siegel, daß die Geschichte vom Igel, der eine Affäre mit einem Kaktus hatte, tiefere menschliche Bedeutung annahm und vergüldet wurde durch ein gewisses transzendentales Licht, das ihn an das bewußte Schlußtrio von Faust erinnerte, wo die goldenen Stufen herniedersinken und Margarethe gen Himmel fährt. "Wirklich höchst hübsch", staunte er. Angeekelt betrachtete das Mädchen Duckworth und lächelte dann Siegel breit zu. "übrigens", sagte sie, "ich heiße Lucy." "Hallo", sagte Siegel, "ich heiße Cleanth, aber meine Freunde nennen mich Siegel, aus Mitleid."

"Ja und wo ist eigentlich Dave. Ich könnte ihn ohrfeigen, daß er diesen Lümmel von Brennan eingeladen hat."

Siegel schürzte die Lippen. Teufel, alles war ganz unmöglich. Er mußte jemanden ins Vertrauen ziehen. Er nahm sie bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer und setzte sie auf ein Bett. "Nein", sagte er geschwind, "nicht was du denkst." Er erzählte ihr von Lupescus plötzlichem Verschwinden, und sie zuckte die Schultern und sagte "Vielleicht ist das gut so. Er wäre früher oder später übergeschnappt, er wurde langsam wi’n Ureinwohner."

"Seltsame Art des Ausdrucks", sagte Siegel. Denn: in Washington D. C. wie ein Ureinwohner rumlaufen? Sicher, er hatte das an exotischeren Orten gesehen. Er erinnerte sich an einen Cartoon von Peter Arno im ‘New Yorker’, den er immer gemocht hatte und der eine junge Frau im Apachenkostüm zeigte, die einem lasterhaft aussehenden Franzosen auf dem Schoß saß, in einem Gehsteigcafe; und der Freund der jungen Frau, offenbar ein amerikanischer Tourist mit Kamera, Tragtasche und Fremdenführer bewaffnet, sagte mit dem Ausdruck des Entsetzens "Aber Mary Lou, willst du damit sagen, daß du nicht nach Bryn Mawr zurückkommst, niemals?" Und doch waren seltsamere Dinge geschehen. In den zwei Semestern, die er in Harvard verbracht hatte, war Siegel Zeuge des schrittweisen Verfalls seines Zimmerkollegen Großmann geworden, eines stolzen und stiernackigen Ureinwohners von Chicago, der das Vorhandensein jeder Zivilisation außerhalb von Cook County schlicht leugnete und für den Boston noch schlimmer war als Oak Park, ja tatsächlich eine Art Apotheose der asthenischen Langeweile und des Puritanismus. Großmann war davon unbefleckt geblieben, von königlicher Verachtung besessen, lebte von der geistigen Hand in den Mund, bis eines Weihnachtstages er und Siegel und ein paar Freunde und eine Gruppe Mädchen aus Radcliffe auf Beacon Hill Weihnachten feiern und singen gingen. Ob es der mitgebrachte Schnaps war oder der Umstand, daß Großmann soeben nicht nur Santayanas ‘The Last Puritan’, sondern auch ein beträchtliches Stück T. S. Eliot fertiggelesen hatte — und deshalb für Tradition einerseits und für Weihnachtsfeiern auf Beacon Hill im besonderen empfänglicher geworden war — oder einfach nur Großmanns betrübliche Tendenz, im Beisein von Mädchen aus Radcliffe sentimental zu werden, jedenfalls war er doch so berührt, daß er Siegel später am Abend davon in Kenntnis setzte, es gebe vielleicht in Boston doch ein paar menschliche Wesen. Und dies war der erste winzige Riß in diesem mittelwestlichen Dünkel gewesen, den er bis dahin getragen hatte wie ein Torero seine Capa; nach dieser Nacht ging es nur noch bergab. Großmann gab sich Mondscheinspaziergängen mit nur gerade noch den patrizischsten Radcliffe- und Wellesley-Mädchen hin; er entdeckte eine wunderbare Stelle zum Vögeln hinter dem Soldatendenkmal in Concord; er fing an einen schwarzen Schirm zu tragen und gab alle seine grellen Kleider weg, legte sich an ihrer Stelle makellose und kostspielige Tweeds und Kammgarne zu. Siegel war von all dem leicht verwirrt, aber erst, als er eines Nachmittags am Frühlingsanfang die gemeinsamen Räume in Dunster betrat und Großmann überraschte, wie er vor dem Spiegel stand, mit dem Schirm unter dem Arm und hochmütig hochgezogenen Augenbrauen und edel geblähten Nüstern, und "Ich hab meinen Wagen im Hof von Harvard parkiert" aufsagte, da wurde ihm das Ausmaß der Ausschweifungen seines Zimmerkollegen schlagartig bewußt. Die starken nasalen Rs, die Siegel insgeheim bewundert hatte, waren jetzt kraftlos und bläßlich; und in diesem klassischen Schibboleth erkannte Siegel den Schwanengesang dieses armen unschuldigen Großmann. Ein Jahr später bekam Siegel einen Brief, den letzten: Großmann, hatte ein Mädchen aus Wellesley geheiratet und sie lebten jetzt in Swampscott. Sit tibi tena levis, Großmann. Doch Siegel fragte sich, wie um alles in der Welt jemand Wurzeln in einer gleichzeitig so mittelklassigen und kosmopolitischen Stadt wie Washington schlagen konnte. Man konnte ja ein Bourgeois oder jemand vom internationalen Parkett werden, dies aber konnte in jeder Stadt vorkommen. Es wäre denn, dies hätte mit dem genauen Ort gar nichts zu tun, sondern wäre eine Frage des inneren Triebes gewesen — es wäre denn, es hätte etwas gegeben, was Menschen wie Gauguin und Eliot und Großmann verband, ein Motiv, das ihnen keine andere Wahl ließ; und deshalb fühlte sich Siegel, mochte das nun in Boston geschehen sein, oder jetzt in Gottesnamen halt sogar in Washington geschehen, unwohl und durchaus nicht geneigt, zuviel darüber nachzudenken. Dieses kleine jesuitische Dingsda, dieser Poltergeist würde ihm wieder im Kopf herumtreten, genau so wie es die Aktentasche getan hatte, und er würde zurückgerufen werden in ein wirkliches Land, in dem Drinks gemixt und Bonmots achtlos herausgeschleudert und vielleicht ein, zwei Betrunkene in Pflege genommen werden mußten. Dergestalt handelte das Dingsda jetzt. So schaute er einfach nur Lucy forschend an und sagte "Na, ich weiß nicht. Er schien irgendwie in die Traufe geraten zu sein. Er war vielleicht auch ein bißchen neurotisch."

Die junge Frau lachte sanft und versuchte keine Beziehung mehr zu ihm einzugehen, nicht einmal eine solche des Bettes; sondern sie wollte jetzt unbedingt eigene Gedanken kriegen, solche, auf die Siegel neugierig zu sein weder bereit war, noch würde er es sich zutrauen, mit ihnen fertig zu werden. "Ein bißchen neurotisch", sagte sie, "ist wie ein bißchen schwanger sein. Sie kennen David nicht. Ihm geht es gut, Siegel, ihm als einzigem von uns allen." Siegel lächelte. "Ich sollte den Mund halten", sagte er, "ich bin fremd hier. Hör mal Lucy, könntest du mir bei dieser Bande etwas behilflich sein?"

"Ich Ihnen behilflich?" Plötzlich war sie schwach und antwortete mit einer Empfindung, die so seltsam aus Unfähigkeit und Verachtung bestand, daß er sich zu fragen anfing, wie gut es denn wohl ihr selber gehe. "Okay, ich schließe einen Handel ab. Gegenseitige Hilfe. Um die Wahrheit zu sagen, ich brauche eine Schulter, um mich dran auszuweinen." Siegel warf einen raschen Blick hinter sich in die Küche, einen Blick, den sie auffing. "Kümmern Sie sich nicht um die", sagte sie lächelnd, "die können eine Zeitlang auf sich selber aufpassen. Die wissen, wo der Schnaps und sonst alles ist." Siegel lächelte, um Verzeihung bittend, schloß die Tür ganz und machte es sich auf dem Bett neben ihr bequem, stützte sich auf einen Ellbogen. An der Wand, die ihnen gegenüberlag, hing ein Original-Klee; zwei gekreuzte STÄBE, Jagdflinten und ein paar Säbel hingen an den anderen Wänden herum. Das Zimmer war im Schwedenstil spärlich möbliert und mit einem Spannteppich belegt. Er schaute auf sie hinunter und sagte "Alles klar, heul los."

"Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Ihnen das erzählen sollte", fing sie an, und es war, als hätte sie gesagt "Pater, segnet mich, denn ich habe gesündigt", weil nämlich Siegel oft daran dachte, daß, wenn man all die Schäbigen, Saftigen, gemischtgeschlechtlich-verliebten Schulbanknachbarn, vom Großen Weh heimgesuchten Erstklasspassagiere — die ganze Masse der Erniedrigten und von Gott und der Welt Verlassenen — die ihn mit dieser Eröffnungsformel angeredet hatten, Stück an Stück aneinanderreihte, dann würde die Schlange sicher von hier bis zum Grand Concourse plus einem schüchternen spindelbeinigen Jungen mit einer zerschlitzten Krawatte und zurück reichen. "Bis daß", sprach sie, "Sie aussehen wie David, Sie haben dieselbe Art von Mitgefühl für jedermann, der herumgestoßen wird, irgendwie fühl ich das." Siegel zuckte die Schultern. "So oder so", sagte sie, ""Brennan ist’s und dieses Miststück Considine." Und fort fuhr sie zu erzählen, wiediese Frau und Wirtschaftssachverständige namens Debby Considine vor einer Woche offenbar von einer Expedition nach Ontario zurückgekehrt war und wie Paul Brennan sich auf der Stelle wieder an ihre Fersen geheftet hatte. Außen an ihrem Miethaus an der P. Straße stand ein Baum, und Brennan war auf diesen Baum geklettert und wartete, bis sie herauskam, und jedesmal, wenn sie es tat, gab er seine Leidenschaft für sie in lauten improvisierten Blankversen kund. Gewöhnlich lief eine kleine Menschenmenge zusammen, und schließlich kam eines Nachts die Polizei mit Leitern und holte ihn runter und schleppte ihn ab. "Und wen ruft er vom Posten aus an, um hinzugehen und ihn gegen Kaution rauszuholen", fragte Lucy, "natürlich mich. Und dann noch grad vorm Zahltag. Der Dreckskerl hat’s mir noch nicht mal zurückbezahlt. Und noch schlimmer: er hatte schon was aufm Strafregister. Krinkles Porcino, das ist Pauls Zimmerkollege, hat sich glaub ich im Februar mit dieser Monika da verlobt. Die beiden Flirter waren echt verliebt, und Paul gefielen sie beide, so daß, als Sybil — sie lebte zu der Zeit mit David zusammen — Krinkles nachzulaufen anfing und die Beziehung zu lösen drohte — naja, so halt, jedenfalls hat sie Paul in der Eingangshalle des Mayflower diese Miststückszene gemacht, und zu guter letzt hat Paul mit einer Wodkaflasche, die er grad auf sich trug, auf sie eingehauen, und sie haben ihn wegen Körperverletzung eingebuchtet. Und klar hat David ‘ne schlimme Periode durchgemacht, denn er will absolut in nichts hineingezogen werden, aber Sam Fleischmann, der Paul bis in den Arsch haßt, seit Paul ihm mal für 100 Dollars wurmstichige Uranaktien verkauft hat, hat mit David solches Mitleid gehabt, daß er Sybil Briefe mit Gifttinte zu schreiben anfing, in denen er alles auf Paul schob. Er schrieb sie jeweils morgens, gleich nachdem wir aufgestanden waren, und wir lachten beide ununterbrochen, so komisch war’s."

"Achwa", sagte Siegel, "haha."

"Und als Paul rausgekommen ist", fuhr sie fort, "da war’s doch ganz selbstverständlich, daß Harvey in rasende Wut auf Paul geriet, weil er wußte, ich liebte Paul und schickte ihm Zigaretten und Backplätzchen und so Zeug, solange er im Knast gesessen ist, und mal eines Nachts hat er Paul sieben Häuserblocks weit mit einem Bootsmannsmesser durch den Theaterdistrikt gejagt. Das war irgendwie drollig, weil Harvey war in uniform, und es brauchte vier Mann von der Küstenwache, um ihn abzuschleppen, und da hat er noch einem den Arm gebrochen und nen andern mit schweren Unterleibswunden ins Bethesda Marinehospital geschickt. So und jetzt ist Paul gegen Kaution draußen und droht es der Monika zu besorgen, weil sie mit Sam zusammenlebt, aber was himmiherrgott kann sie anderes tun, wenn Krinkles schon wochenlang nicht mehr in der Stadt ist, um sich von alldem zu entwöhnen und so Zeugs. Das Problem ist, daß dieser verfluchte Süchtige nicht weiß, wie toll sie wirklich ist, Siegel. Erst vorn paar Tagen hat sie Krinkles’ Baritonsax zur Pfandleihe gebracht, nachdem der arme Sam soeben seine Stelle an der Smithsonianbibliothek verloren, hatte und grad vor Hunger am Sterben war, als sie’s zu Gehör bekam und ihn zu sich nahm. Dieses Mädchen ist eine Heilige." Auf diese Art machte sie noch eine Viertelstunde weiter und legte wie ein schwerfällig-tapsiger Hirnchirurg Synapsen und Schlingen frei, die nie ans Tageslicht hätten kommen dürfen, enthüllte so Siegel die Anatomie einer Krankheit, die ernsthafter war, als er erwartet hatte: die Ödländer des Herzens, wo Schatten und kreuzweis verwobene Fäden ungenauer Selbstanalyse und Freud'scher Fallgruben sowie Passagen mit tückischen Licht- und Perspektiveverhältnissen einen in jene überhöhte hysterische Reizbarkeit hinauftrieben, einer bestimmten Spezies von Alptraum entsprechend, den man erleben kann, wenn man die Augen geöffnet läßt und wenn alles an der Szene vertraut ist, und wo doch, flackernd hinter der Laibung der Schranktür, verborgen unterm Stuhl in der Ecke, dieses Je ne sais quoi de sinistre' lauert, das einen schreiend in den Wachzustand zurücktreibt.

Bis schließlich einer von Brennans Freunden, den Lucy als Vincent vorstellte, hereingewandert kam und sie davon in Kenntnis setzte, daß schon jemand zu den Glastüren hinausgelaufen sei, allerdings ohne sie zu öffnen; und Siegel wurde es zu seiner Erschöpfung klar, daß dies eben die bewußte Art Einladung werden würde, und, nachdem er sich ohnehin schon durch die schiere Tat, neben einem ihm unbekannten Mädchen zu liegen und eine halbe Stunde lang die Rolle des Busens zum Ausweinen zu spielen, kompromittiert hatte, beschloß er im besten englischen Stabsoffizier-Stil, die Zähne in die gute alte Flintenkugel zu schlagen und aus einer undankbaren Aufgabe das Beste zu machen.

In der Küche saß ein Pärchen auf dem Spültrog und fickte; Duckworth, entsetzlich betrunken, lag auf dem Boden und warf mit Pistaziennüssen nach dem Schweinefötus; und eine Gruppe von vier oder fünf Leuten in Bermuda-Shorts saßen im Kreis und spielten Prince. Im anderen Zimmer hatte jemand eine Cha-cha-cha-Platte aufgelegt und einige Paare improvisierten frei. Gespräche von vermutlich echter Intelligenz waberten rund ums Zimmer, mit der falschen Grellheit von Hitzeblitzen: in Minutenschnelle erfaßte Siegel die Worte "Zen", "San Francisco" und "Wittgenstein" und empfand eine Art milder Enttäuschung, fast so, als hätte er irgendeine esoterische Sprache erwartet, etwas aus Albertus Magnus. Nebst dem Schweinefötus enthielt das Szenenbild nur noch eine andere wirklich unpassende Note: ein dunkelfarbiger Mensch in zerschlissener Tropenuniform und einem alten Kordmantel stand in einer Ecke wie ein Memento Mori, zurückgezogen und melancholisch. "Das ist Considines Neuester", sagte Lucy, "ein Indianer, den sie aus Ontario zurückgebracht hat. Mensch, das ist vielleicht ein dickes Stück."

"Er schaut traurig aus", sagte Siegel. Jemand überreichte Siegel eine zweideutige Mischung in einem altmodischen Glas, und automatisch nippte er daran, zog eine Grimasse und stellte es ab. "Er heißt Irving Loon", sagte sie träumerisch.

"Irving wieviel?" fragte Siegel.

"Loon. Er ist ein Objiwa. Ach da ist Paul. Schwatzt mit Considine, der Fink." Sie führte ihn in eine andere Ecke, wo ein zu klein geratener Jungmanagertyp gierig auf diese schlangenartige Brünette mit den Maskaraaugen einredete. Beim ersten Blick auf Debby Considine sog Siegel Luft zu einem stillen Pfiff ein und ließ die vier Finger seiner linken Hand ein paarmal hin und her flattern und vergaß Irving Loon, die Prince-Spieler und betrunkenen Seemänner. "Marrona", wisperte er. Lucy starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. "Jetzt aber nicht Sie auch noch", sagte sie wütend "Diese ganzen gottverdammten Sexmaschinen." Er wurde vorgestellt, und nach einer gewissen Zeit gelang es Lucy, Brennan unter irgendwelchem Vorwand wegzulocken, und Siegel war mit der Frau Wirtschaftsfachmann allein. "Und, wie waren die Hinterländer von Ontario?" fragte er. Sie schaute ihn unter gesenkten Lidern hervor an. "Ach, so faszinierend", murmelte sie mit einer rauhen unbeteiligten Stimme, "kennen Sie die Ojibwa?" Siegel fing einen Stapel von IBM-Karteiblättern in rasendem Tempo durchzublättern an. Es gab da etwas, was er wußte, was er im College gehabt hatte. Es ärgerte ihn, daß er die Information nicht präsent hatte, weil die meisten Vorlesungen, die er belegt hatte, keine andere Funktion hatten - zumindest hatte er in seiner ersten Studienhälfte immer dagegen protestiert - als für Einladungen wie diese Gesprächsmaterial bereitzustellen. Ojibwa-Indianer. Irgendwo in Ontario. Irgendwas Merkwürdiges, sogar Komisches, aber verdammt, er konnte es nicht genau orten. "Sie schauen ganz leidenschaftlich aus", sagte Debby plötzlich. "Können wir irgendwo miteinander reden?" und Siegel, der von seiner IBM-Kartei weggezogen wurde, dachte, Du lieber Gott, da fängt's wieder von vorn an. Er führte sie ins Schlafzimmer, das allmählich wie ein pervers ausgestattetes Beichtzimmer aussah, und er fragte sich, ob dies der Ort gewesen sei, wo David Lupescu gekrümmten Seelen ; zuhörte. Es schien ihm durchaus so. Sie stand ganz nah vor ihm und spielte mit seiner Challiskrawatte und machte ihm die packend-spröde Nummer des Liderklapperns nochmals. "Sie sind der Gleiche", flüsterte sie, "Sie besitzen die monumentale Unverfrorenheit von Lupescu. Sind Sie sicher, daß Sie nicht sein Doppelgänger sind?"

"Nein", sagte Siegel, "da bin ich nicht sicher. Aber fangen Sie ruhig an." Sie zögerte, und er soufflierte ihr, "Paterunser, segne mich …"

Die Lider öffneten sich blitzartig. "David hat das auch so gesagt. Siegel, wer sind Sie?"

"Im Augenblick: ein Beichtvater. Was liegt Ihnen auf der Seele, mein Kind?"

"Irving Loon", sagte sie und saß auf dem Bett und spielte mit dem leeren Highballglas, das sie mit hereingenommen hatte, ohne die Ironie zu gewahren, "noch in Ontario war er so glücklich. Wissen Sie, zur Zeit der Reisernte sitzen da die ganzen Familien beisammen, alle glücklich, das gemütliche Beisammensein im Land der Ojibwas. Wilde Feste, Zwiste, Sexorgien, Gemeinschaftssingen, Mannbarkeitsrituale. Jede Art wunderbarer Lokalfarbe, man kann ein Notizbuch nach dem anderen damit füllen. Und dann Irving Loon, drei Meter groß, mit Fäusten wie Felsen und Manns genug, sogar ein steinernes Herz wie meins in Unruhe zu bringen." Und dann, ganz überraschend - und für Siegel sehr genierlich - fing sie an eine Liste der Liaisons aufzuzählen, die sie in den ganzen unterentwickelten Gebieten, die sie vom Innenministerium aus besucht hatte, eingegangen war, einige Seiten inoffizieller Statistik, die ein bißchen wie die Aufzähl-Arie in Don Giovanni klangen. Sie schien die Gewohnheit zu haben, überall wo sie hinging, männliche Wesen aufzureißen und sie mit heimzubringen und sie dann nach ein paar Wochen fallenzulassen. Ihre Verflossenen lebten sich dann entweder bei der Bande ein oder fanden einen Einzelplatz in einer anderen Gruppe oder verschwanden völlig und für immer von der Bildfläche. Irving Loon aber, so versicherte sie, sei anders. Er habe dieses gewisse Brütende an sich, wie James Dean. "Den ganzen Abend ist er in derselben Ecke gestanden", sagte sie, "seit zwei Tagen hat er kein Wort mehr gesprochen. Ich fühle -" und ihre Augen starrten über Siegels Schulter weg nach gottweißwo, "- daß es nicht nur seine Sehnsucht nach der Wildnis ist, sondern es ist beinah so, als wäre er dort draußen im Hinterland, wo es nur Schnee und Wälder und ein paar Biber und Elche gibt, auf etwas gestoßen, was Stadtbewohner ihr ganzes Leben lang nie finden, von dessen Bestehen sie vielleicht nicht mal was ahnen, und das vermißt er jetzt, nämlich das was die Stadt in ihm tötet oder vor ihm verbirgt." Ich will verdammt sein, dachte Siegel, diese Tücke meint es ernst. "Und genau das kann ich Paul nicht sagen", seufzte sie. "Er spöttelt über Irving, nennt ihn einen Ignoranten. Aber er hat eine göttliche Melancholia, und genau das liebe ich an ihm."

Du liebe Zeit, das war es also. Melancholia. Zufällig hatte sie dieses Wort gebraucht, den Psychologenausdruck, anstelle von .Melancholie'. Der kleine Professor Mitchell sitzt wie ein Spatz an seinem Pult in der Anthropologievorlesung, Hände in den Manteltaschen, redet über Psychopathie bei den Ojibwa-Indianern. Ja, die alte Datenbank funktionierte noch. "Sie müssen bedenken, daß diese Gruppe ständig am Rand des Hungertodes lebt", sagte Mitchell in jenem abschätzigen, um Nachsicht bittenden Ton, der besagte, daß für ihn alle Kulturen gleich verrückt seien; nur die Form sei verschieden, der Inhalt nie. "Es ist gesagt worden, das ojibwa’sche Ethos sei mit Urangst gesättigt", und fünfzig Stifte schrieben den Satz Wort für Wort gleichzeitig mit. "Von Kindheit auf sind die Ojibwa ans Hungern gewöhnt; die ganze Aufzucht des männlichen Kindes dient nur einem einzigen Zweck: es zu einem großen Jäger zu machen. Nachdruck wird auf isoliertes Alleinsein, Selbstgenügsamkeit gelegt. Unter den Ojibwa gibt es keine Sentimentalitäten. Sie führen eine strenge, karge und öde Existenz, immer nur einen Schritt vom Tod entfernt. Bevor er in den Zustand des Mannesalters gelangen darf, muß ein Knabe eine Halluzination haben, und dies, nach dem er einige Tage gefastet hat. Oft hat er, nachdem er das Gesicht gehabt hat, das Gefühl, einen übernatürlichen Gefährten bekommen zu haben, und tendenziös identifiziert er sich mit diesem. Draußen in der Wildnis, mit nur einer Handvoll Biber, Rehe, Elche und Bären zwischen sich und dem Hungertod: der ojibwa'sche Jäger nämlich hat in Extremsituationen Gefühle, fühlt eine Konzentrierung dunkler kosmischem Kräfte gegen sich und ausschließlich gegen sich gerichtet, zynische Terroristen, wilde und amoralische Gottheiten" — hier schob sich ein zerknirschtes Lächeln dazwischen — "welche seine Zerstörung im Sinne haben … in dieser Lage kann die Identifikation total werden. Werden solche paranoiden Tendenzen durch das äußerst wettbewerbsorientierte Leben der Sommerdörfer zur Reisernte- und Beerenpflückzeit, oder eventuell durch den Ruch eines von persönlichem Groll besessenen Schamanen noch gesteigert, dann wird die allgemeinbekannte Windigopsychose den Ojibwas zu einer hohen Gefährdung." Siegel kannte natürlich das Windigo. Er erinnerte sich, wie er einmal fast den Verstand verloren hatte vor Angst, als er in einem Lager am Feuer das Bild eines meilenhohen Skeletts aus Eis erzählt bekommen hatte, das brüllend durch die kanadische Wildnis krachte, Hände voll Menschen vom Boden auflas und sich von ihrem Fleisch nährte. Aber er hatte die Alpträume seiner Knabenzeit lange genug hinter sich, um über die professorale Beschreibung eines halbverhungerten Jägers still für sich lachen zu können, wenn der Jäger, schon ganz krumm, sich mit dem Windigo identifizierte und selber zum wahnsinnigen Kannibalen wurde und das ganze Hinterland nach mehr Nahrung durchstöberte, nachdem er sich schon an den Leibern seiner nächsten Familienangehörigen gütlich getan hatte … "Stell dir mal das Bild vor", hatte er Großmann in jener Nacht über den Bierseideln voller Würtzburger gesagt, "veränderte Wahrnehmungsfähigkeit. Zur selben Zeit schauen auf Gott weiß wievielen Quadratmeilen hunderte, tausende von diesen Indianern einander aus den Augenwinkeln an und sehen weder Männer noch Frauen noch etwa gar kleine Kinder mehr. Was sie sehen, sind große, fette, saftige Biber. Und, Großmann, diese Indianer haben Hunger. Ich meine, du lieber Trost. Eine große Massenpsychose. Soweit das Auge reicht" — er gestikulierte dramatisch — "Biber. Schmackhaft, saftig, fett."

"Wie scheen", hatte Großmann mit einer Grimasse kommentiert. Bestimmt war das belustigend, wenn auch nicht geradewegs. Und die Anthropologen hatten was darüber zu schreiben und die Einladungen was, worüber sie schwatzen konnten. Faszinierend, diese Windigopsychose. Und es war schon seltsam genug, daß ihre ersten Stadien von einer tiefen Melancholia gekennzeichnet waren. Dies hatte die Erinnerung in ihm ausgelöst, ein Nebeneinander von Wörtern, ein zufälliger Umstand. Er fragte sich, warum Irving Loon seit zwei Tagen nichts gesprochen hatte. Er fragte sich, ob Debby Considine etwas von diesem Bereich der ojibwa’schen Persönlichkeit bekannt sei. "Und Paul begreift’s einfach nicht", sagte sie gerade, "natürlich war’s ne Schweinerei, sich bei der Polizei zu beschweren, aber ich lag nächtelang wach und dachte an ihn, wie er da oben auf diesem Baum hockte wie ein böser Geist und auf mich wartete. Ich glaub ich hab mich immer ein bißchen vor sowas gefürchtet, vor was Unvertrautem, mit dem ich nicht umgehen konnte. Ja doch", gestand sie mit hochgezogenen Augenbrauen, "ich hab sie alle trotzdem an der Nase rumgeführt. Aber, Siegel, das wollte ich nicht, Gott ist mein Zeuge. Aber ich kann nichts dafür." Siegel hätte ums Haar gesagt "Brauch ein wenig weniger Maskara oder sowas", kam aber wegen einer bestimmten Erhellung, die seit Lupescus Weggang in seinem Hinterkopf gelegen hatte, nicht dazu: ein halbformierter Eindruck der Rolle, die Lupescu für diese Gruppe gespielt hatte; und es ging ihm auf, daß sein Double niemals so etwas gesagt hätte. Man konnte ihr die Absolution erteilen oder Buße auferlegen, aber keinen praktischen Rat geben. Gemütlich in einem Pfarrhaus des Verstandes steckend blickte Cleanth Siegel, S. J., in tiefer Billigung vor sich hin "Um fürn Moment das Thema zu wechseln", sagte Siegel, "wissen Sie, hat Irving Ihnen etwas über das Windigo erzählt?"

"Seltsam, daß Sie’s erwähnen", sagte sie, "es handelt sich um eine Naturgottheit oder sonstwas, was die verehren. Ich seh mir die Welt nicht durch die Anthropologenbrille an, sonst könnt ich Ihnen mehr darüber sagen. Aber als Irving das letztmals was sagte — er spricht so gut Englisch — da sagte er einmal "Windigo, Windigo, verlaß mich nicht." Diese poetische, religiöse Eigenschaft ist so rührend an ihm." Und ziemlich genau da begann Siegel sich wirklich unbehaglich zu fühlen, als er diesen winzigen, höchst ärgerlichen Mißklang hörte. Poetisch? Religiös? Ha, ha. "Ich fürchte", sagte sie, "ich werde so deprimiert, so erschöpft. Schon als kleines Mädchen hatte ich immer Angst, von einem Meteoriten getroffen zu werden, ist das nicht blöd? Dieser Terror des Unvertrauten, diese Art Willkürlicher Akt Gottes oder sonstwas. Vor zwei Jahren wurde es ärger, immer ärger, und ich wollte mit einem Schlag a la Debby Considine alles in Ordnung bringen, indem ich ziemlich viel mehr als die vorgeschriebene Dosis Seconal schluckte. Und dann als es nicht funktioniert hat, bin ich wieder mal in Form gekommen und fühle mich seit zwei Jahren high und ich glaub jetzt bin ich reif für wieder mal nen Absturz down."

Plötzlich setzte sich Siegel aufrecht und starrte genau geradeaus, auf die gekreuzten STÄBE an der Wand. Er kriegte allmählich genug davon. Lupescu hatte unrecht: diese Art Benehmen bekam man nicht so schnell mit. Es handelte sich um einen langsamen Prozeß, der dazu noch gefährlich war, weil es im Lauf der Ereignisse möglich wurde, nicht nur sich selbst, sondern auch seine anhänglichen Schäfchen zu zerstören. Er ergriff ihre Hand. "Los", sagte er, "ich möchte Irving kennenlernen. Sagen Sie zur Buße zehn Aves auf und üben Sie gute tätige Reue."

"Du lieber Himmel", murmelte sie, "es tut mir herzlich leid…" und offenbar tat es ihr das, aber wahrscheinlich nur, weil das Gespräch unterbrochen worden war. Sie suchten ihren Weg durch verschiedene bewegungslose Körper in der Küche. Die Cha-cha-cha-Platte war durch Bartòks Konzert für Orchester ersetzt worden, und Siegel lächelte grimmig, weil das so genau paßte; weil er wußte, daß er sich jetzt alles andere ungerührt anhören konnte, nur nicht diesen wahnsinnigen Ungarn, aber im Klang einer ganzen plötzlich Amok laufenden Streichergruppe, die kreischte wie ein an der Wurzel ausgerissener Alraun und sich selbst entzweizureißen im Begriff war, fing der flinke kleine Macchiavelli in ihm an, mit Gegenständen nach dem ,etre humain' zu werfen, der soeben ins Erwachsenenalter eingetreten war und noch immer für Leute wie Debby Considine und Lucy und sich selber und die andern Toten ewig Schiwa saß und versuchte, das Ganze in Aktion zu peitschen; und er fragte sich, ob vielleicht Lucys Diagnose von Lupescus Schwierigkeiten nicht doch gestimmt hatte und ob er, Siegel, sich eines Tages nicht mit einem Schweinefötus unter dem Arm vor einem Spiegel wiederfinden und sich selber in Freud'schem Jargon des längeren ansprechen werde, um den richtigen Zungenschlag zu kriegen.

"Irving Loon", sagte Debby, "Cleanth Siegel." Irving Loon stand bewegungslos da und schien ihre Gegenwart nicht zu bemerken. Debby legte ihre Hand auf den Arm des Ojibwa und streichelte ihn. "Irving", sagte sie, "bitte, sag etwas" Verflucht seien die Torpedos, dachte Siegel. Volle Kraft voraus. "Windigo", sagte er ruhig, und Irving Loon sprang auf, als wäre ihm ein Eiswürfel den Kragen hinunter gerutscht. Gezielt starrte er Siegel an und prüfte ihn plötzlich mit schwarzen, durchdringenden Augen. Dann ließ er seinen starren Blick zu Debby hinüberschweifen und lächelte gezwungen. Er legte den Arm um ihre Hüfte und schnüffelte mit dem Mund an ihrer Wange herum. "Debby", murmelte er, "mein schöner kleiner Biber."

"Ist das nicht süß?" fragte Debby und lächelte Siegel über die Schulter an. Du liebe Zeit, dachte Siegel. Bitte nicht. Biber? Jetzt aber mach mal Pause. Jemand zog Siegel am Jackenärmel, und er drehte sich rasch und nervös um und sah Brennan. "Kann ich Sie eine Minute allein sprechen?" fragte Brennan. Siegel zögerte. Irving Loon und Debby flüsterten einander Zärtlichkeiten zu. "Ja klar doch", sagte Siegel abwesend. Sie knirschten mit den Sohlen übers zerbrochene Glas der Glastüren weg und gingen auf einen kleinen Balkon hinaus, was gar nicht schlecht war, denn Siegel hatte allmählich genug vom Schlafzimmer. Der Regen war in einen leisen Nebel übergegangen, und Siegel schlug den Kragen seiner Jacke hoch. "Man sagt mir, Sie seien ein ganz sympathischer Bursche", fing Brennan an, "und ich nehme an, Sie wissen, was zwischen Debby und mir los ist. Die Wahrheit ist, daß mich dieser Indianer sehr beunruhigt."

"Mich auch", wollte Siegel sagen, dann fing er sich auf. Diese Theorie, warum Irving Loon nicht sprach, beruhte auf bloßer Vermutung; und letztendlich hatte diese ganze absurde, surreale Atmosphäre auf ein Gehirn eingewirkt, das ja bekanntermaßen seinen Gefühlen gelegentlich freien Lauf Meß. So sagte er stattdessen "Ich kann schon verstehen, was Sie meinen." Brennan hängte den Schlauen heraus. "Ich vermute, er wendet Hypnose auf sie an", vertraute er Siegel an und schoß rasche Blicke zurück nach innen, um zu sehen, ob jemand zuhörte. Siegel nickte in tiefer Weisheit. Brennan erklärte sodann seine Sicht der Baumkletter-Episode, und als er damit zu Ende war, war Siegel, der nicht aufgepaßt hatte, überrascht, als er bei seinem ersten Blick auf die Uhr an diesem Abend sah, daß es schon fast elf war. Ein paar Leute waren gegangen, und die Einladung zeigte die ersten Anzeichen ihres Niederganges. Siegel wanderte in die Küche hinaus, wo er einen Dezi Scotch fand und sich einen Scotch on the rocks machte, übrigens sein erster Drink seit seiner Ankunft. Allein stand er m der Küche und versuchte die Dinge zu ordnen. Erste Phase, Melancholia. Zweite Phase, direkte Gewalt. Wieviel hatte Irving Loon getrunken? Wie eng waren die Zusammenhänge zwischen dem Hungerleiden und der Psychose, wenn sie einmal angefangen hatte? Und dann erschlug ihn die Ungeheuerlichkeit dessen, was er dachte. Wenn diese Vorahnung richtig war, dann hatte Siegel die Macht, für diese Gemeindeangehörigen eine Art Wunder zu wirken, ihnen eine sehr konkrete Erlösung zu bieten. Ein Wunder, das einen Gastgeber mit einschloß; ja; aber keins wie die heilige Eucharistie. Neben Irving Loon war er der einzige, der eingeweiht war. Und, wie ihn eine nüchterne Stimme erinnerte, war er offenbar der einzige, der über die Ojibwa auch nur die Windigopsychose als Information hatte. Vielleicht war das viel zu allgemein gedacht, mit Irving Loon konnte irgend sonst was los sein. Und doch, vielleicht . . . eine Gewissensentlastung. Vincent kam zu ihm heraus und wollte reden, aber er wehrte ihn ab. Siegel hatte so ziemlich genug Beichten abgenommen. Er fragte sich, wie sein Vorgänger so lange ein Beichtvater hatte bleiben können. Ihm ging jetzt auf, daß Lupescus Abschiedskommentar keine betrunkene Witzelei gewesen war; sondern daß der Mann, etwa wie Kurtz, tief ins Herz einer Finsternis sah, aus dessen Innern nie ein Elfenbeinzahn herausgelangte, sondern von seinen jeweiligen Sammlern eifersüchtig gehortet wurde, um mit Riesenanstrengung, Stück für Stück, Tempel zum Ruhme irgendeiner Imago oder Besessenheit zu erbauen, sie innen mit den Kunstgegenständen des Traums und Alptraums auszuschmücken, und sie schließlich gegen einen feindlichen Wald abzusiegeln, jeder "Agent" in seinem eigenen Elfenbeinturm, der keine Fenster zum Hinausschauen hatte, sich immer stärker nach innen wendend und eine kleine Flamme hinter dem Altar verehrend. Und auf seine Weise war auch Kurtz ein Beichtvater gewesen. Siegel schüttelte den Kopf, um ihn wieder klarzukriegen. Jemand hatte im anderen Zimmer ein dämliches Gesellschaftsspiel angefangen, und Siegel setzte sich an den Küchentisch, wippte mit einem Bein und schaute zur Menge hinein. "Ja, ihr seid eine hübsche Bande", murmelte er.

Er dachte allmählich, er sollte vielleicht allen diesen Menschen sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren und dann halt noch bei Rache! vorbeischauen, als er Irving Loon ganz träumerisch unter dem Schweinefötus hereinkommen sah, mit starr nach vorn gerichteten, nichts sehenden Augen. Siegel, wie gelähmt, schaute zu, wie Irving Loon ins Schlafzimmer ging, einen Stuhl an eine Wand herüberzog und einen der STÄBE vom Haken hob. Verzückt und von dem, was er tat, vollkommen in Anspruch genommen, fing der Indianer die Schubladen von Lupescus Schreibtisch zu durchwühlen an. Sachte schlich sich Siegel vom Tisch weg und ging auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür. Irving Loon, der noch immer vor sich hinsang, kam lächelnd mit einer Schachtel Munition Kaliber 30 zum Vorschein. Ganz zufrieden fing er an, das Magazin mit Patronen zu füllen. Siegel zählte die Patronen, als er sie hineinsteckte. Das Magazin faßte zwanzig. Okay, sagte Siegel zu sich, da haben wir’s. Augenblick der Wahrheit. Espada zerbrochen, Muleta verloren, Pferd aufgeschlitzt mit raushängenden Därmen, Picadors krank vor Angst. Fünf Uhr nachmittags, die Menge brüllend. Miura-Stier, scharfe Hörner, greift an. Er schätzte, daß etwa sechzig Sekunden für eine Entscheidung übrigblieben, und jetzt wurde die stille kleine Jesuitenstimme, als sie das Wunder letztlich tatsächlich in seinen Händen sah, so großmäulig und irgendwie überschäumend fröhlich, wie es Siegel einmal empfunden hatte, als er fünfhundert hysterische frischgebackene Studienanfänger auf die Mädchenschlafräume zulaufen sah und wußte, er hatte dies alles angestiftet und in Bewegung gesetzt. Und die andere, sanfte Seite in ihm sagte Kadischgebete für die Toten und beklagte die Fröhlichkeit des Jesuiten, sah aber immerhin ein, daß diese Art Buße so gut war wie jede andere; es war bloß kein ganz glücklicher Umstand, daß Irving Loon als einziger sich Fleisch und Blut teilen würde, sei es göttlich oder nicht. Beide Seiten in ihm brauchten nicht länger als fünf Sekunden, um übereinstimmend zu sehen, daß eigentlich nur noch ein Weg offen blieb.

Ruhig schlenderte Siegel durch die Küche zurück, durch den Salon, nahm sich Zeit, wurde von den törichten Gesellschaftsspielern nicht beachtet, machte die Tür auf, schritt in den Korridor hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Pfeifend spazierte er hinunter. Auf Ebene des ersten Stockwerks hörte er die ersten Schreie, das dumpfe Hämmern von Schritten, das Klirren zerschmetterten Glases. Er zuckte die Schultern. Ach was zum Teufel, in Washington waren schon seltsamere Dinge passiert. Erst als er die Straße erreicht hatte, hörte er die erste Salve aus dem abgefeuerten STAB.

Tod und Begnadigung in Wien
(alternative Übersetzung)

Index Hauptseite Vorwort Die Parabel Biographie Dekonstruktion Michael D. Bell Summary Against The Day Richard Fariña Robert Frost Galerie Literatur Mason & Dixon Monographien u. Aufsätze Luddism Patterns—Muster Proverbs for Paranoids Schweine Slow Learner Soccer Tod und Begnadigung in Wien Vineland Weblinks Weiterführende Literatur Wernher von Braun The Wizard of Oz Fay Wray The Zero Homepage Page up/Seitenanfang

Mail
© Otto Sell — Monday, December 02, 2002
Last update Monday, June 13, 2005

WEBCounter by GOWEB

created with Arachnophilia