Strukturalismus, Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Postmoderne:
Gravity’s Rainbow und der Zustand der Welt


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"By one of the ironic perversities that often attend the course of affairs, the existence of the works of art upon which formation of an esthetic theory depends has become an obstruction to theory about them."
John Dewey Art as Experience

"The revisionism that affects our understanding and categorizing of Pynchon’s fiction is proceeding not only in specific studies of his fiction but (…) in our perception of the categories themselves."
Dwight Eddins: The Gnostic Pynchon

"A lot has happened in Pynchonland (…) GR has become an icon of postmodernism in literature."
Luc Herman Approach and Avoid

Wovon zu reden ist:

Zum Begriff der Postmoderne
Der historische Zustand der Postmoderne
Von der Moderne zur Postmoderne in Kunst und Literatur
Der strukturalistische Ansatz
Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit
Jonathan Culler: Die Dekonstruktion der westlichen Metaphysik nach Derrida
Jacques Derrida: die Doppelstrategie der Dekonstruktion
Friedrich Nietzsche: Metaphysische Welt
Ferdinand de Saussure: Die Doppelstruktur des Zeichens und die Différance
Credo: "words are only an eye-twitch away from the things they stand for"

„Eine erste Quelle der Verwirrung liegt schon in
der mangelnden Festigkeit der Schlüsselbegriffe,
deren Umfang je nach spezifischer Ebene der kritischen Diskussion
und den dort geltenden Gegensätzen und Differenzen variiert."

Jonathan Culler (16)

"It goes without saying that critical categories are as
more or less fishy as they are more or less useful."

John Barth (200)

Durch die fortwährende "confusion of ideas of the opposite" (90) wird durch den Roman Hand an unser grundlegendes Verständnis der Welt und der Dinge gelegt. Wir sind aufgefordert, unser bisheriges Denken einer vor allem im Hinblick auf scheinbar feststehende Glaubenssätze kritischen Prüfung zu unterziehen:
"It all goes along together. Parallel, not series. Metaphor. Signs and symptoms. Mapping on to different coordinate systems." (159)
Beachtet man die in vielerlei Hinsicht (vor allem aber in ihrer Binärität) strukturelle Vergleichbarkeit der unserer Kultur zugrundeliegenden, zumeist unkritisch übernommenen und unser Weltbild konstituierenden religiöser und historischer Metafiktionen, so hält kaum eine davon einer kritischen Überprüfung stand.

Zum Begriff der Postmoderne

Als Literaturwissenschaftler kümmert mich die Diskussion um den Begriff Postmoderne eigentlich weniger, zumal die meisten, die ihn diffamieren, sich lediglich weigern, sich inhaltlich wirklich mit dem Thema zu beschäftigen. Ich kann und will mich dem Komplex jedoch nicht ganz entziehen.

Ich kenne von keinem der so oft als Eklektizisten gescholtenen Postmodernen eine Aussage, in der von der Postmoderne als eine klar von der Moderne abgegrenzte Kunstepoche gesprochen würde. Eine solche Aussage mit Absolutheitscharakter würde auch dem Geist der Postmoderne widersprechen. Eher könnte man von einer Fortsetzung der durch die beiden Weltkriege gestörten Entwicklung einer Kunst in allen Bereichen, die sich einer positiven und demokratischen gesellschaftlichen Entwicklung verpflichtet fühlt, sprechen.

"Die Postmoderne ist diejenige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real und anerkannt wird und in der daher plurale Sinn- und Aktionmuster vordringlich, ja dominant und obligatorisch werden. Diese Pluralisierung wäre, als bloßer Auflösungsvorgang gedeutet, gründlich verkannt. Sie stellt eine zuinnerst positive Vision dar. Sie ist von wirklicher Demokratie untrennbar. (…) Sie folgt der Einsicht, daß jeder Ausschließlichkeits-Anspruch nur der illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten entspringen kann. Daher ergreift sie für das Viele Partei und wendet sich gegen das Einzige, tritt Monopolen entgegen und decouvriert Übergriffe. Ihre Option gilt der Pluralität — von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denktypen und Sozialkonzeptionen, von Orientierungssystemen und Minderheiten."
Welsch (5)
Es ist völlig unangemessen (und ich mag es auch nicht), wenn der Streit um die theoretischen Begriffe oder die Einordnung die Auseinandersetzung mit Inhalt und Struktur eines Werkes verdrängt. Eine solche Kategorisierung sollte doch der Nachwelt überlassen werden. Für Lyotard ist die Postmoderne gar ein Teil der Moderne, aber nicht, wie man meinen könnte, ihr Abgesang, sondern ihre fortgesetzte und fortwährende Erneuerung:
"What then, is the postmodern? What place does it or does it not occupy in the vertiginous work of the questions hurled at the rules of image and narration? It is undoubtedly a part of the modern. All that has been received (…) must be suspected. (…) In an amazing acceleration, the generations precipitate themselves. A work can become modern only if is first postmodern. Postmodernism thus understood is not modernism at its end but in the nascent state, and this state is constant."
(Answering the Question: What is Postmodernism, The Postmodern Condition, Manchester University Press, 1986, p. 71-82, reprinted at: Waugh (123) )
Seit Mitte der achtziger Jahre, spätestens aber seit 1990, wurde die Postmoderne von vielen Seiten totgesagt, vor allem aber von jenen, die ihre Existenz sowieso grundsätzlich bezweifelt hatten. Da sie jetzt tot ist, kann man also zumindest konstatieren, daß es so etwas wie Postmoderne gegeben hat. Außerdem sind uns alle diejenigen, die bezweifeln, daß es sie gab oder gibt, einen Begriff für jene Form von Literatur schuldig, die weder vormodern noch modern im Sinne von James Joyce, Gertrude Stein oder William Carlos Williams ist.
"Da stehen wir also vor einer Schwierigkeit. Was sollen wir als das Neue ausrufen, auf das ich bis jetzt noch nicht gestoßen bin, das aber dringend, irgendwie ans Licht muß? Post-Postmodernismus klingt, für meine Ohren, ein wenig klobig. Hab an der Revolution des Wortes rumgedreht (…) oder auch an der Neuen Revolution des Wortes (…) Das Wort neu sollte irgendwo drin sein. Die neue Neuartigkeit? Oder vielleicht Das Post-Neue?"
Donald Barthelme: "Nicht-Wissen," 1985, in Utz Riese, Falsche Dokumente, p. 495.

Nach meinem jetzigen Verständnis sind Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion der theoretische Hintergrund der Literatur eines Thomas Pynchon und — wir wollen nicht vergessen, daß es hier vorrangig um Pynchon und Gravity’s Rainbow gehen soll, aber eben nicht nur, sondern auch um Samuel Beckett, Jorge Luis Borges, Kurt Vonnegut, John Barth, Donald Bartheleme, Ishmael Reed, Paul Auster, Don DeLillo, William Gass, John Hawkes, Robert Coover, Stanley Elkin, Toni Morrison, Günter Grass, Peter Handke, Thomas Bernhard, die Gebrüder Strugatzki, Salman Rushdie, Viktor Pelewin, Gabriel García Márquez, Alain Robbe-Grillet, Georges Perec, Italo Calvino und andere, denen es egal ist, ob sie die Lieblinge der Massen sind und die ihre Arbeit sowohl als Möglichkeit wie auch als Notwendigkeit verstehen.

Die Dekonstruktion ist für mich ein unabdingbares Handwerkszeug, wenn man diese, als postmodern geltende Schriftsteller verstehen und nicht als unlesbar abtun will, die in ihren Werken auf den veränderten gesellschaftlichen Zustand von 1949 bis 1989, den wir der Einfachheit halber Postmoderne nennen, reagiert haben.

Der historische Zustand der Postmoderne

Wesentlichstes Merkmal des Zustands der «eingefrorenen Geschichte» war der Ost-West Gegensatz, die binäre Opposition von Spätkapitalismus und real existierendem Sozialismus.

Durch das relative Gleichgewicht an Massenvernichtungswaffen war eine weitere geschichtliche Entwicklung im Marxschen Sinne unmöglich. Die Großmächte USA und UDSSR erwiesen sich als kontradiktorische und nicht als dialektische Widersprüche.

In der Konsequenz konnten nur noch Stellvertreterkriege (Korea, Vietnam, Angola, Afghanistan und andere) stattfinden, weil eine direkte Auseinandersetzung zwischen den ideologischen Kontrahenten einen Weltkrieg und höchstwahrscheinlich das Ende der Welt wie wir sie kennen bedeutet hätte. Dieses war ein wesentlicher Aspekt der neuen Qualität jener Periode.

Nach der Periode der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel erreichten wir sehr schnell das Stadium, daß den kollektiven rassischen Selbstmord der Menschheit möglich machte. Die Rakete aber durfte nicht fallen, weil sie mittelbar auch den Absender sowie alle anderen Unbeteiligten und vielleicht sogar alles Leben auf der Erde annihiliert hätte.

Ein weiterer Aspekt war die allgemeine Bewußtwerdung des Gegensatzes von Ökonomie und Ökologie. Die Grenzen des Wachstums erschien im gleichen Jahr wie Gravity’s Rainbow, und machte deutlich, daß sich unser lineares Weltbild nicht für alle Zeiten durchhalten lassen würde. Wie es jedoch scheint, ist der Prozeß bereits unumkehrbar, hat unsere Zivilisation den Brennschlußpunkt (223) schon hinter sich gelassen.

Für den heutigen Zustand seit dem Zerfall der Sowjetunion müssen wir uns halt etwas neues ausdenken. Ich halte Begriffe wie Neue Historisierung, Globalisierung oder allgemeine Balkanisierung da für recht unpassend angemessen (siehe Donald Barthelme oben).

Vielleicht könnte Entwicklung wieder stattfinden, wenn der ehemalige Sozialismus aufhören würde, lediglich die schlechtesten Seiten des Kapitalismus zu kopieren und der Westen aufhörte, mit der Überwindung des Stalinismus auch gleich alle sozialen Errungenschaften des modernen Sozialismus und Erkenntnisse des Humanismus wieder über Bord zu kippen. Stattdessen erleben wir anstelle der bisherigen Stellvertreterkriege in den Ex–Kolonien die Geschichte in Form eines Wiederauflebens der alten „Stammeskämpfe," die es schon vor der Ankunft des jeweiligen „weißen Mannes" gegeben hatte, und zwar global.

Doch auch bei uns werden die Verteilungskämpfe rauher, seit die „soziale Marktwirtschaft," die viele soziale Mißstände abfedern konnte, in Verruf gekommen ist, und der Neoliberalismus, soziale und ethnische Ausgrenzung wieder das Regiment führen. Aber der Versuch, die technische Entwicklung ohne den Humanismus voranzutreiben, wird in einer sozialen oder ökologischen Katastophe enden, weil eine reine Kosten-Nutzen Analyse letztlich zu Lasten derer gehen wird, deren Lebensverhältnisse durch den Fortschritt, das Versprechen der Aufklärung, verbessert werden sollten.

Globalisierung bedeutet eigentlich die Wiedereinführung des Sozialdarwinismus, denn global sind lediglich das Elend und das Geld, nicht aber soziale Mindeststandards, die Steuergesetzgebung und Maßnahmen gegen Korruption und Kriegsverbrecher.

Mit dem Hinweis auf die notwendigen strukturellen Anpassungen an die Globalisierung und der Androhung von Arbeitsplatzabbau läßt sich jeder Panzer in jedes Krisengebiet liefern, jeder soziale Standard mit sogenannten Reformen aushöhlen und jeder Kulturetat kürzen.

Solange Devisengeschäfte weltweit weder besteuert noch effektiv kontrolliert werden, werden Spekulanten immer wieder ihre Macht nutzen, um das eine oder andere Land in die Inflation zu stürzen und die Sparer um ihre Renditen zu betrügen.

Von der Moderne zur Postmoderne in Kunst und Literatur

In der Literatur zur Postmoderne finden sich verschiedene historische Abrisse zur Entwicklung der modernen (und weiter zur postmodernen) Kunst seit dem 19. Jahrhundert.

Das Internet, von vielen gerne zum postmodernen Medium schlechthin apostrophiert, hat immerhin den Vorteil, das manche Quellen schnell und unkompliziert zu erreichen sind, und so will ich hier auch auf eine Fundstelle verweisen, die ein ganzes Kapitel aus dem Buch The Postmodern Turn von Steven Best und Douglas Kellner beinhaltet, in dem es um die Entwicklung von der Moderne zur Postmoderne in Literatur, Malerei und Architektur geht: Chapter Four: Postmodernism in the Arts: Pastiche, Implosion, and the Popular.

Um die Entwicklung von der Moderne zur Postmoderne zu erläutern, beginnen Best und Kellner mit einem Rekurs auf den Modernismus, die avantgardistische Kunst vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie folgen dabei Fredric Jameson, der den wesentlichen Impuls des Postmodernismus in der Reaktion auf den Wandel in der Rezeption der künstlerischen Artefakte der Hochmoderne versteht, die von Objekten des Widerstandes nach dem Zweiten Weltkrieg in den Kanon der musealen Hochkultur rückten. parodiert werden oder in sie eingegangen sind. Abgelehnt wird zwar zum einen der esoterische Anspruch (art for art’s sake) des Modernismus, anerkannt wird aber, daß die Kunst seit den französischen Impressionisten von der „Bürde der Representation," dem Zwang zur Mimesis, die Literatur von den linearen Erzählformen des Realismus befreit ist. Wie der Modernismus lehnt auch der Postmodernismus diese Vorgaben ab.

Im Unterschied zum Modernismus aber wird die Tradition nicht verworfen, sondern ironisch hinterfragt. Wir sind uns heute bewußt, daß die weitergehenden Forderungen des Modernismus auf die völlige Autonomie des Kunstwerks sowie das Rimbaud-Motto auf Dauer nicht einzulösen sind. Im Gegensatz zum modernistischen Zwang zu Innovation und absoluter Originalität geht die Postmoderne davon aus, daß Zitat, Nachbildung und Simulacrum seit der Antike Bestandteil der Kunst sind.

"Postmodernists abandon the idea that any language -scientific, political, or aesthetic- has a priviledge vantage point on reality; instead, they insist on the intertextual nature and social construction of all meaning. For postmodernists, the belief of the avant-garde in the integrity of the individual as an active agent, in language as revelatory of objective truth, and in faith in historical progress remain wedded to the mythic structure of modern rationalism."
The Postmodern Turn
Darüberhinaus ist die Abgrenzung des Modernismus von der «Massenkultur» elitär und unrealistisch, wenn wir die Ursprünge ‘unserer’ Kunst im alten Griechenland betrachten, wie beispielsweise John Dewey und andere dies getan haben.

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Der strukturalistische Ansatz

Das „post" in Poststrukturalismus impliziert, das es so etwas wie Strukturalismus gegeben hat. Was aber ist das und was aber unterscheidet einen strukturalistischen Ansatz von herkömmlicher literarischer Interpretation?

Nach Roland Barthes (Jefferson, p. 94) ist der Strukturalismus eine bestimmte Art und Weise der Analyse kultureller Artefakte, die sich vorrangig der Begriffe und Methoden der zeitgenössischen Linguistik (Ferdinand de Saussure) bedient und wie der New Criticism in den USA den intentionalen Fehlschluß (intentional fallacy) aufgegeben hat. Die Frage, was der Verfasser eines Textes sagen will, wird zugunsten der Frage, was der Text in einem bestimmten Kontext (der sich aber ändern kann) sagt, aufgegeben.

Infolge der Unbestimmtheit des Kontextes aber ist die Frage nach einer universellen, verbindlichen Textaussage obsolet geworden, denn über die Deutung, die ein Text in einem anderen als dem eigenen Kontext erfahren könnte, eine Aussage zu machen, wäre Spekulation.

Der Strukturalismus hat das Prinzip der binären Opposition von Signifikant und Signifikat zu einem zentralen Element der Textanalyse gemacht.

„Bei der strukturalen Analyse wird typischerweise (…) nach hierarchischen Ketten binärer Oppositionen gesucht"
Hawthorn (33)
Einer der Schlüsseltexte zum Strukturalismus ist ein Aufsatz von Roland Barthes, der nur schwer verfügbar zu sein scheint. Er erläutert u.a. die Bedeutung der Linguistik für die zeitgenössische Kunst. Ich habe den Text auch deshalb in HTML gesetzt, um ihn beim Abschreiben noch einmal intensiv zu lesen. Ich wünschte, ich hätte ihn vor fünfzehn Jahren richtig gelesen und denke, daß dieser Verstoß gegen das Copyright inhaltlich gestattet ist, zumal mit dieser Website kein Geld verdient wird:

Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit

Jonathan Culler: Die Dekonstruktion der westlichen Metaphysik nach Derrida

Der Begriff Dekonstruktion, selbst ein Hybrid aus den binären Oppositionen Konstruktion und Destruktion, gilt als wichtigstes Element des Poststrukturalismus. Geprägt wurde er
„von dem französischen Philosophen Jacques Derrida (1930) und impliziert, daß die hierarchischen Oppositionen des westlichen metaphysischen Denkens"
Hawthorn (47ff.)
das Derrida als Logozentrismus bezeichnet, Konstruktionen oder ideologische Auflagen sind, die auf binären Oppositionen sowie auf einem externen Referenzpunkt, einer Präsenz wie Gott, Wahrheit, Ursprung, Ursache, Transzendenz oder einem Zentrum beruhen, wobei all’ diese Begriffe lediglich Metaphern füreinander ohne eigentlichen Inhalt sind, weil das transzendentale Signifikat, auf das diese Signifikanten jeweils verweisen, nicht darstellbar ist.
"Western philosophy (…) has generally acted on the presupposition that language is subservient to some idea, intention or referent that lies outside it. (…) the conceptual oppositions which structure Western philosophical thought (…) all imply that ideas, and indeed content of any kind, exist independently of the medium in which they are formulated."
Ann Jefferson (113)
Für Derrida besteht die gesamte Geschichte des Logozentrismus, der westlichen Metaphysik, aus einer Kette von Ersetzungen eines Zentrumsbegriffs durch weitere, ebenso metaphorische Begriffe. Philosophien sind für ihn Versionen des Logozentrismus, dieser aber ist für ihn immer die Annahme einer Ordnung von Sinn. Derrida verwendet das griechische Wort logos, um darauf hinzuweisen, daß hinter dem Logozentrismus stets die unausgesprochene Annahme steht, daß das Wort im Gegensatz zur Schrift geoffenbarte Wahrheit sei. Diesem „Glauben an absolute und extrasystemische Bedeutungsdeterminanten" Hawthorn (259) will die Dekonstruktion die Grundlage entziehen.


Die Doppelstrategie der Dekonstruktion

Die Dekonstruktion will das westliche metaphysische Denken unterminieren, indem sie in einer Doppelstrategie dessen innere Widersprüche aufzeigt. Diese Strategie besteht darin, daß in einem ersten Schritt die Hierarchie der klassischen philosophischen Gegensätze umgekehrt wird. Der zweite Schritt besteht darin, das System hierdurch generell in Frage zu stellen:
„Die Dekonstruktion muß, fährt Derrida fort, «durch eine doppelten Geste, eine doppelte Schreibweise eine Umkehrung des klassischen Gegensatzes und eine generelle Deplazierung des Systems praktizieren. (…) » Der Praktiker der Dekonstruktion arbeitet innerhalb eines Begriffssystems, aber in der Absicht, es aufzubrechen."
Culler (95)
Um aufzuzeigen, wie man einen Diskurs dekonstruiert, wird auf die Nietzscheanische Dekonstruktion der Kausalität verwiesen:
„Die Kausalität ist ein fundamentales Prinzip unseres Universums. Nähmen wir nicht für selbstverständlich an, daß ein Ereignis ein anderes verursacht, daß Ursachen Wirkungen haben, könnten wir nicht so leben oder denken wie wir es tun. Das Kausalitätsprinzip setzt die logische und zeitliche Qualität der Ursache gegenüber der Wirkung voraus. Aber (…) dieser Begriff der kausalen Struktur ist nicht gegeben, sondern das Produkt einer bestimmten tropologischen oder rhetorischen Operation, einer chronologischen Umdrehung. Nehmen wir einmal an, jemand empfindet Schmerz. Dies veranlaßt ihn dazu, nach einer Ursache zu suchen; indem er vielleicht eine Nadel erblickt, postuliert er eine Beziehung und kehrt die wahrgenommene oder phänomenologische Ordnung Schmerz - Nadel um und erstellt eine kausale Folge: Nadel - Schmerz. «Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung , die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projiziert als deren ‹Ursache› … In dem Phänomenalismus der ‹inneren Welt› kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundtatsache der ‹inneren Erfahrung› ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist …» (Werke, Bd. 3, S. 804). Das kausale Schema wird durch eine Metonymie oder Metalepsis (Ersetzung der Wirkung durch die Ursache) ersetzt; es ist also keine unbezweifelbare Grundlage, sondern das Produkt einer rhetorischen Operation."
Culler (96-97)
Es ist wichtig, dabei zu verstehen, daß die Dekonstruktion nicht das Kausalprinzip insgesamt verwirft, sondern die Umkehrung der Gegensätze durchaus innerhalb des Systems vornimmt. Die sich hieraus ergebenden Implikationen führen jedoch dazu, daß der Ursprungsbegriff seine «metaphysische Qualität» verliert, als bloßes gedankliches Konstrukt denunziert wird.
„Die Unterscheidung von Ursache und Wirkung macht aus der Ursache einen Ursprung, der logisch und zeitlich vorausgeht. Die Wirkung ist abgeleitet, sekundär, von der Ursache abhängig. (…) Wenn die Wirkung das ist, was verursacht, daß die Ursache zur Ursache wird, dann sollte eigentlich die Wirkung, nicht die Ursache, als Ursprung angesehen werden. (…) Wenn die Ursache wie auch die Wirkung die Position des Ursprungs einnehmen können, dann ist der Ursprung nicht mehr ursprünglich, er verliert sein metaphysisches Privileg."
Culler (98)
Auf die Bibel angewendet erklärt dies auch das ehemals provokante Nietzscheanische «Gott ist tot» aus dem Zarathustra, denn in Mose 1,26-27 steht, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Umgekehrt wird für den säkularisierten Menschen eher ein Schuh daraus: «Wenn die Dreiecke einen Gott hätten, wäre er dreieckig (Simmel)» steht vorne in meiner Bibel, die ich, durchaus angemessen, Second-hand erworben habe.
Metaphysische Welt. – Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrigbleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Dies ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorge zu machen; aber alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen wertvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntnis, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt!"
Friedrich Nietzsche: Von den ersten und letzten Dingen, Bd. 1, p. 237

Die Doppelstruktur des Zeichens und die Différance.

Auf die Sprache übertragen wird zwischen dem Sprachsystem «langue» und dem Sprechakt «parole», sowie zwischen Signifikant und Signifikat und «Synchronie» und «Diachronie» unterschieden, Differenzierungen, die auf Ferdinand de Saussure zurückgehen, für den die «Natur des Zeichens» essentiell ist:
„Was verleiht diesem seine Identität, und was befähigt es, als Zeichen zu funktionieren? Er argumentiert, daß Zeichen arbiträr und konventionell sind und daß jedes Zeichen nicht durch wesentliche Eigenschaften, sondern durch die Differenzen definiert sind, die es von anderen Zeichen unterscheidet. Sprache wird so als System von Differenzen aufgefaßt, und dies führt zur Entwicklung der Unterscheidungen, auf die der Strukturalismus und die Semiotik aufbauen: zwischen Sprache als System von Differenzen (langue und den Redeereignissen, welche das System ermöglicht (parole), zwischen der Untersuchung der Sprache als System zu einem gegebenen Zeitpunkt (Synchronie) und der Untersuchung der Beziehungen zwischen Elementen verschiedener Perioden (Diachronie), zwischen zwei Arten von Differenzen innerhalb des Systems, syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen, und zwischen den beiden Konstituenten des Zeichens, dem Signifikanten und dem Signifikat."
Culler (109)
Der Signifikant (das Zeichen) aber ist nicht das, wofür er steht (das Signifikat), aber er bezieht seine eigene Identität sowie seine Funktionalität daraus, daß er genau dies behauptet. Seine Identität besteht also aus der Differenz zu sich selbst. Es gibt also einen unauflösbaren Gegensatz zwischen Zeichen (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifkat), der dazu führt, daß sich nichts direkt ausdrücken läßt, sondern nur über den Umweg des vermittelnden Zeichens, dessen Bedeutung aber wiederum auch nicht feststeht, sondern durch andere, ebenfalls unsichere Zeichen bestimmt wird. Aber auch dieses Modell ist logozentrisch in dem Sinne, indem die unausgesprochene Annahme fortbesteht, daß die Sprache über der Schrift, das Signifikat über dem Signifikanten steht, was Derrida als «phonozentrisch» bezeichnet. Dahinter steckt nämlich die alte Losung vom Anfang des Johannes-Evangeliums, daß das ursprünglich geoffenbarte Wort etwas göttliches sei: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort."

Das Konzept, mit dem Derrida jeglichen Logozentrismus begegnet, ist die différance.
Der von Derrida geprägte Neologismus différance kann nur verstanden werden, wenn man beide Möglichkeiten der Bedeutung des französischen Verbs différer, nämlich zum einen ‘aufschieben’ und zum anderen ‘verschieden, unterschiedlich sein,’ einbezieht. Sprachlich ist différance von différence (Unterschied) nicht zu unterscheiden, nur das geschriebene Wort enthüllt die Bedeutung.

Konsequenz ist, daß ein Ursprung nicht zu benennen ist, ein eventueller letztendlicher Sinn durch die so entstehende Signifikantenkette ins Unendliche aufgeschoben wird (Stop Making Sense).

words are only an eye-twitch away from the things they stand for

"Tonight he feels the potency of every word:
words are only an eye-twitch away from
the things they stand for." (100)
In Gravity’s Rainbow werden durch die massive Verwendung der Null als Metapher, die "interface" oder "crossover point" zwischen den Polen der binären Opposition ist, durch „Reversionen, Konversionen, Metamorphosen und Grenzüberschreitungen" (Hillgärtner) durch den Nullpunkt hindurch, alle möglichen binären Oppositionen und auf diesem Binärsystem beruhenden «metaphysischen Koordinatensysteme» entpolarisiert und in Frage gestellt. Indem die prinzipielle strukturelle Vergleichbarkeit all dieser Systeme aufgezeigt und somit die Möglichkeit genommen wird, sich auf einen außersystematischen Referenzpol zu berufen, werden alle diese Systeme demystifiziert und dekonstruiert. Alle Konstrukte und Konzepte des Logozentrismus wie Religionen, Esoterika, Wissenschaft, Wahrheit, Geschichte, Gott und Sprache müssen sich diese ironische Relativierung im Roman gefallen lassen.

Von einem Text einen Sinn wie in einer göttlichen Offenbarung zu erwarten, wäre vermessen. Weder religiöse Weisheits– noch Geschichtsbücher sind in der Lage, mittels der Schriftzeichen, in denen sie verfaßt sind, die Wahrheit auszudrücken. Dies gilt auch für die Literaturkritik, die versucht, die Bedeutung eines Textes zu offenbaren.

Man muß sich der doppelten Bedeutung des Terminus ‘Apokalypse’ bewußt bleiben, die durch den deutschen Begriff ‘Offenbarung’ nur allzu leicht verschleiert wird: der nicht wegzudenkende Aspekt der Vernichtung. Angesichts des Zustandes der Welt ist es daher nur angebracht, wenn man fragt, welchen Sinn apokalyptische Offenbarungen noch machen, wenn die Katastrophe schon eingetreten ist.

Links

Semiotics and Deconstruction – by Jonathan Culler, English & Comp. Lit., Cornell

Postmodernism and Critical Theory — my collection of links

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© Otto Sell – Wednesday, September 27, 2000
Last update Thursday, January 12, 2006

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