Roland Barthes Die strukturalistische Tätigkeit
Was ist der Strukturalismus? Er ist keine Schule, nicht einmal eine
Bewegung
(zumindest noch nicht), denn die Mehrzahl der Autoren, die gemeinhin mit diesem
Wort in Zusammenhang gebracht werden, fühlt sich keineswegs durch eine
Solidarität der Doktrin oder des Kampfes verbunden. Er ist kaum eine
Terminologie:
Struktur,
ein alter Begriff aus der Anatomie und der Linguistik, ist heute schon sehr
abgegriffen; alle Sozialwissenschaften bedienen sich seiner, und niemand wird
durch den Gebrauch des Wortes charakterisiert, so sehr auch über den
Inhalt, den man ihm gibt, gestritten werden mag.
Kaum relevanter sind
Funktion, Form, Zeichen und Bedeutung;
es sind heute allgemein gebräuchliche Wörter, von denen man alles
verlangt und alles erhält, was man nur will, insbesondere die Kaschierung
des alten deterministischen Schemas von Ursache und Wirkung. Wahrscheinlich
muß man zurückkehren zu Begriffspaaren wie
Signifikant-Signifikat
und
Synchronie-Diachronie,
um sich dem zu nähern, was den Strukturalismus von anderen Denkweisen
unterscheidet; zu dem ersten, weil es auf das linguistische, von Saussure
stammende Modell verweist, und weil die Linguistik, neben der Ökonomie,
gegenwärtig
die
Wissenschaft von der Struktur ist; und noch entschiedener zu dem zweiten, weil
es offenbar eine gewisse Revision des Geschichtsbegriffs impliziert, insofern
die Idee der
Synchronie
(obschon bei Saussure ein vor allem operativer Begriff) für ein gewisses
Stillstehen der Zeit bürgt, und weil die Idee der
Diachronie
darauf abzielt, den historischen Prozeß als bloße Aufeinanderfolge
von Formen darzustellen; diese beiden Begriffe sind deshalb besonders
distinktiv, weil es heute wirklich den Anschein hat, als komme der
Hauptwiderstand gegen den Strukturalismus aus marxistischer Richtung und kreise
um den Begriff der Geschichte, nicht um die Struktur; wie dem auch sei,
wahrscheinlich ist die ernsthafteste Hinwendung zur Wortbedeutung (und nicht
zum Wort selbst, das paradoxerweise durchaus nicht distinktiv ist) , in der man
letztlich das Kennzeichen des Strukturalismus zu sehen hat: man achte darauf,
wer
Signifikant
und
Signifikat
gebraucht, und man wird wissen, ob die strukturalistische Einstellung gegeben
ist.
Dies gilt für die intellektuelle Metasprache, die sich methodologischer
Begriffe bedient. Da jedoch der Strukturalismus weder eine Schule noch eine
Bewegung ist, gibt es keinen Grund, ihn
a priori
auf das wissenschaftliche Denken zu beschränken. Man sollte lieber
versuchen, ihn auf einem anderen Niveau als dem der reflektierenden Sprache so
umfassend wie möglich zu beschreiben (wo nicht zu definieren). Es ist in
der Tat anzunehmen, daß es Schriftsteller, Maler und Musiker gibt, in
deren Augen das
Praktizieren
der Struktur (und nicht nur der Gedanke an sie) eine distinktive Erfahrung
darstellt, und daß man Analytiker wie Schöpfer unter das gemeinsame
Zeichen dessen stellen muß, was man den
strukturalen Menschen
nennen könnte, der nicht durch seine Ideen oder seine Sprache definiert
wird, sondern durch seine Imagination oder besser noch durch sein
Imaginäres,
also durch die Art, wie er die Struktur geistig erlebt.
Der Strukturalismus ist demnach für
alle
seine Nutznießer im wesentlichen eine
Tätigkeit,
das heißt die geregelte Aufeinanderfolge einer bestimmten Anzahl
geistiger Operationen: man könnte von strukturalistischer Tätigkeit
sprechen, wie man von surrealistischer Tätigkeit gesprochen hat (und
vielleicht hat der Surrealismus die erste Erfahrung strukturaler Literatur
hervorgebracht; man müßte einmal darauf zurückkommen). Doch
bevor wir untersuchen, was dies für Operationen sind, muß ein Wort
über das Ziel gesagt werden.
Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder
poetisch, besteht darin, ein Objekt derart zu rekonstituieren,
daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es
funktioniert (welches seine Funktionen sind). Die Struktur ist in
Wahrheit also nur ein
Simulacrum
des Objekts, aber ein gezieltes, interessiertes Simulacrum, da das
imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt
unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb. Der
strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen;
das ist scheinbar wenig (und veranlaßt manche Leute zu der Behauptung,
die strukturalistische Arbeit sei unbedeutend, uninteressant,
unnütz usw.).
Und doch ist dieses Wenige, von einem anderen Standpunkt aus gesehen,
entscheidend; denn zwischen den beiden Objekten, oder zwischen den beiden
Momenten strukturalistischer Tätigkeit bildet sich etwas
Neues,
und dieses Neue ist nicht Geringeres als das allgemein Intelligible: das
Simulacrum, das ist der dem Objekt hinzugefügte Intellekt, und dieser
Zusatz hat insofern einen anthropologischen Wert, als er der Mensch selbst ist,
seine Geschichte, seine Situation, seine Freiheit und der Widerstand, den die
Natur seinem Geist entgegensetzt.
Man sieht also, warum von strukturalistischer Tätigkeit gesprochen werden
muß: Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer
Abdruck der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der
ersten
ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will.
Man kann also sagen, der Strukturalismus sei im wesentlichen eine
Tätigkeit der Nachahmung, und insofern gibt es streng genommen keinerlei
technischen Unterschied
zwischen wissenschaftlichem Strukturalismus einerseits und der Kunst
andererseits, im besonderen der Literatur: beide unterstehen einer
Mimesis,
die nicht auf der Analogie der Substanzen gründet (wie in der
sogenannten realistischen Kunst), sondern auf der der Funktionen (was
Lévi-Strauss
Homologie
nennt). Wenn Trubeztkoij das phonetische Objekt in Gestalt eines
Variationssystems rekonstruiert; wenn Georges Dumézil eine funktionelle
Mythologie erarbeitet; wenn Propp ein Volksmärchen konstruiert, das
mittels Strukturation aus sämtlichen slawischen Märchen, die er zuvor
zerlegt hat, hervorgeht; wenn Claude Lévi-Strauss den homologischen
Prozeß des totemistischen Imaginären, C.-G. Granger die formalen
Regeln des ökonomischen Denkens oder J.-C. Gardin die relevanten
Eigenschaften prähistorischer Bronzen entdeckt; wenn J.-P. Richard das
mallarmésche Gedicht in seine distinktiven Schwingungen zerlegt; so tun
sie nichts anderes, als was Mondrian, Boulez oder Butor tun, wenn sie, durch
die geregelte Darstellung bestimmter Einheiten und bestimmter Assoziationen
dieser Einheiten, ein bestimmtes Objekt arrangieren, eben jenes, das man
Komposition
nennt.
Ob nun das Objekt, das der strukturalistischen Arbeit unterworfen wird, bereits
als ein komplexes vorliegt (wie im Fall der strukturalen Analyse einer Sprache,
einer Gesellschaft oder eines konstituierten Werkes) oder noch diffus ist (wie
im Fall der strukturalen Komposition); ob man dieses Objekt der
sozialen Wirklichkeit oder der imaginären Wirklichkeit entnimmt, tut wenig
zur Sache: nicht durch die Natur des kopierten Objekts wird eine Kunst definiert
(ein hartnäckiges Vorurteil jedes Realismus), sondern durch das, was der
Mensch, indem er es rekonstruiert, hinzufügt: die Technik ist das Wesen
jeder Schöpfung. Sofern also die Ziele der strukturalistischen
Tätigkeit untrennbar an eine bestimmte Technik gebunden sind, existiert
der Strukturalismus auf eine im Verhältnis zu anderen Arten der Analyse
oder der Schöpfung distinktive Weise: das Objekt wird neu zusammengesetzt,
um Funktionen in Erscheinung treten zu lassen, und das ist, wenn man so sagen
darf, der Weg, der das Werk hervorbringt; aus diesem Grunde sollte man nicht
von strukturalistischen Werken sprechen, sondern von strukturalistischer
Tätigkeit.
Die strukturalistische Tätigkeit umfaßt zwei typische Operationen:
Zerlegung und Arrangement. Indem man das erste Objekt zerlegt, findet man in
ihm lose Fragmente, deren winzige Differenzen untereinander eine bestimmte
Bedeutung hervorrufen; das Fragment an sich hat keine Bedeutung, ist aber so
beschaffen, daß die geringste Veränderung, die man an seiner Lage
und Gestalt vornimmt, eine Änderung des Ganzen bewirkt; ein
Viereck
von Mondrian, eine
Reihe
von Pousseur, eine
Zeile
in Butors
Mobilem
das
Mythem
bei Lévi-Strauss, das Phonem der Phonologen, das
Thema
dieses oder jenes Literaturkritikers: all diese Einheiten (was immer ihre im
einzelnen sehr verschiedene innere Struktur auch sein mag) haben eine
signifikante Existenz einzig durch ihre Grenzen: sowohl durch diejenigen, durch
die sie von den anderen
aktuellen
Einheiten getrennt werden (das jedoch ist ein Problem des
Arrangements) als auch durch diejenigen, durch die sie von anderen
möglichen
Einheiten, mit denen sie eine bestimmte Klasse bilden, unterscheiden. Die
Linguisten sprechen im letzten Fall vom
Paradigma;
dieser Begriff scheint wesentlich zu sein für das Verständnis der
strukturalistischen Einstellung: das Paradigma ist ein Vorrat von Objekten
(Einheiten), so begrenzt wie nur möglich, aus dem man, durch einen Akt des
Nennens, dasjenige Objekt (oder die Einheit) herausholt, das man mit einer
aktuellen Bedeutung versehen will; das paradigmatische Objekt wird dadurch
charakterisiert, daß es zu den anderen Objekten seiner Klasse in einer
bestimmten Beziehung der Affinität und Verschiedenheit steht.: zwei
Einheiten eines Paradigmas müssen sich in einigem gleichen, damit die
Verschiedenheit, die sie trennt, Evidenz gewinnen kann:
s
und
z
müssen zugleich eine gemeinsame Eigenschaft (ihre Dentalität) und
eine distinktive Eigenschaft (das Vorhandensein oder Fehlen von Sonorität)
besitzen, damit wir im Französischen dem Wort
poisson
(Fisch) nicht dieselbe Bedeutung geben wie
poison
(Gift); die Vierecke von Mondrian müssen durch ihre viereckige Form
affinitär und zugleich durch Proportion und Farbe unterschieden sein; die
amerikanischen Automobile (in Butors
Mobile
) müssen unaufhörlich auf die gleiche Weise inspiziert werden, jedoch
stets durch Marke und Farbe differieren; die Episoden der Ödipus-Sage (in
der Analyse von Lévi-Strauss) müssen zugleich identisch und
verschieden sein, damit sie, wie alle diese Werke, verständlich werden.
Die Operation des Zerlegens erzeugt somit einen ersten zersplitterten Zustand
des Simulacrums, doch die Einheiten der Struktur sind durchaus nicht
anarchisch: bevor sie verteilt und in die Komposition eingeschlossen werden,
bildet jede von ihnen zusammen mit dem ihr zugehörigen möglichen
Vorrat einen intelligenten Organismus, der einem obersten bewegenden Prinzip
unterworfen ist: dem des kleinsten Unterschiedes.
Den gesetzten Einheiten muß der strukturale Mensch Assoziationsregeln
ablauschen oder zuweisen: das ist die Tätigkeit des Arrangierens, die der
Tätigkeit der Nennung folgt. Die Syntax der Künste und Analysen ist,
wie man weiß, äußerst vielfältig; was sich jedoch in
jedem Werk strukturalen Entwurfs finden läßt, ist die Unterwerfung
unter einen Regelzwang, für den der (fälschlich inkriminierte)
Formalismus viel weniger von Belang ist als die Stabilität; denn was sich
in diesem zweiten Stadium der strukturalistischen Tätigkeit abspielt, ist
eine Art Kampf gegen den Zufall, deshalb haben die Rekurrenszwänge der
Einheiten einen fast demiurgischen Wert: durch die regelmäßige
Wiederkehr der Einheiten und Assoziationen von Einheiten kommt das Werk als
konstruiertes zum Vorschein, das heißt mit Bedeutung versehen: die
Linguisten nennen diese Kombinationsregeln
Formen,
und es wäre ratsam, diesen strengen Gebrauch eines abgenutzten Wortes
beizubehalten: die Form, wurde gesagt, ist das, was der Mensch dem Zufall
entreißt. Und das macht vielleicht verständlich, warum die
sogenannten nichtgegenständlichen Werke dennoch in höchstem Grad
Werke sind: weil das menschliche Denken sich nicht in der Analogie von Kopie
und Modell ausdrückt, sondern in der Genauigkeit der Anordnungen; und
andererseits, warum diese Werke denen, die keinerlei
Form
in ihnen entdecken, zufällig und eben darum unnütz erscheinen.
Das derart errichtete Simulacrum gibt die Welt nicht so wieder, wie es sie
aufgegriffen hat, und darin gründet die Bedeutung des Strukturalismus.
Zunächst offenbart er eine neue Kategorie des Objekts, die weder das Reale
noch das Rationelle ist, sondern das
Funktionelle;
er trifft hierin mit einem ganzen Wissenschaftskomplex zusammen, der sich im
Augenblick im Umkreis der Informationstheorie entwickelt. Außerdem und
vor allem beleuchtet er den spezifisch menschlichen Prozeß, durch den die
Menschen den Dingen Bedeutung geben. Ist das neu? Bis zu einem gewissen Grad.
Freilich hat die Welt seit je unermüdlich nach der Bedeutung dessen
gesucht, was ihr gegeben ist und was sie erzeugt; neu ist ein Gedanke (oder
eine Poetik), der weniger versucht, den Objekten, die es entdeckt,
Bedeutungen zuzuweisen, als vielmehr zu erkennen, wodurch die Bedeutung
möglich ist, zu welchem Preis und auf welchem Weg. Man könnte sogar
sagen, daß das Objekt des Strukturalismus nicht der mit bestimmten
Bedeutungen bedachte, sondern der Bedeutung erzeugende Mensch ist, als so als
würden die semantischen Ziele - die Ziele der Menschheit - nicht etwa
durch den Inhalt der Bedeutungen ausgeschöpft, sondern einzig durch den
Akt, der jene Bedeutungen - geschichtliche und kontingente Variablen - erzeugt.
Homo significans:
das wäre der neue Mensch der strukturalen Forschung.
Wie also könnte der strukturale Mensch die Anklage des Irrationalismus
hinnehmen, die zuweilen gegen ihn erhoben wird? Sind denn die Formen nicht in
der Welt, sind denn die Formen nicht verantwortlich? War das Revolutionäre
bei Brecht wirklich der Marxismus? War es nicht vielmehr der Entschluß,
den Marxismus an den Standort eines Bühnenscheinwerfers, die
Zerschlissenheit eines Kostüms zu binden? Der Strukturalismus entzieht der
Welt nicht die Geschichte: er versucht, die Geschichte nicht nur an Inhalte zu
binden (das ist tausendfach getan worden), sondern auch an Formen; nicht nur an
das Materielle, sondern auch an das Intelligible, nicht nur an das
Ideologische, sondern auch an das Ästhetische. Und eben weil jeder Gedanke
über das geschichtliche Intelligible auch ein Beitrag zu diesem
Intelligiblen ist, liegt dem strukturalen Menschen wenig daran, ob er dauert:
er weiß, daß auch der Strukturalismus eine bestimmte
Form
der Welt ist, die sich mit der Welt ändern wird, und so wie er seine
Gültigkeit (nicht seine Wahrheit) in der Fähigkeit sieht, die alten
Sprachen der Welt auf neue Weise zu sprechen, weiß er auch, daß,
sobald aus der Geschichte eine neue Sprache auftauchen wird, die nun ihrerseits
ihn
spricht, seine Aufgabe beendet ist.
(aus dem Französischen von Eva Moldenhauer,
Kursbuch 5,
Mai 1966, p. 190-196)
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