THOMAS PYNCHON — TOD UND BEGNADIGUNG IN WIEN

(alternative Übersetzung von XXXX)

Gerade als Siegel vor der Adresse stand, die Rachel ihm gegeben hatte, begann es wieder zu regnen. Den ganzen Tag über hatten ausgefranste Regenwolken tief über Washington gehangen, den Schulkindern auf ihrer Klassenfahrt den Blick vom Monumentverdorben, mit kurzen Schauern die Touristen schreiend und fluchend in Deckung getrieben und das zarte Rosa der eben erst aufgeblühten Kirschen gedämpft. Es war ein kleines Apartment-Haus in einer ruhigen Straße nicht weit vom Dupont Circle, und Siegel floh vor dem Regen in die Eingangshalle, wobei er die Scotchflasche umklammert hielt, als sei sie ein Staatsgeheimnis. Es hatte Zeiten gegeben - das war während des vergangenen Jahres gewesen, in der Avenue Kleber oder in der Vialle delle Terme di Caracalla –, da hatte er dort, wo jetzt die Flasche war, eine Aktentasche getragen und sie mit eben diesem Arm vor Regen, einem Termin oder irgendwelchen bürokratischen Zwängen geschützt. Und meistens - besonders wenn er noch von der letzten Nacht verkatert war oder wenn das Mädchen, von dem die anderen Anwärter auf den diplomatischen Dienst steif und fest behauptet hatten, mit ihr gebe es keine Probleme, sich dann als so willig erwiesen hatte, daß er sich eigentlich sogar die Drinks hätte sparen können — hatte er dann den Kopf geschüttelt wie ein Betrunkener, der die Doppelbilder loswerden will, wobei ihm plötzlich das Gewicht der Aktentasche, die Bedeutungslosigkeit ihres Inhalts und die Stumpfsinnigkeit seiner Tätigkeit hier drüben, so weit entfernt von Rachel, bewußt geworden war — einer Tätigkeit, bei der er einem dämmrigen, aber deutlich markierten Pfad durch einen Urwald aus Pfändungsbeschlüssen, eidesstattlichen Erklärungen und beeideten Zeugenaussagen folgte. Dann hatte er sich auch gefragt, wie er während seiner Anfangszeit bei der Commission dazu gekommen war, sich als eine Art von Heiler zu sehen, wo er doch schon immer gewußt hatte, daß ein Heiler, ein Prophet eigentlich — denn wenn man die Sache ernst nahm, mußte man beides sein –, sich auf gar keinen Fall um Bilanzen oder juristische Spitzfindigkeiten kümmern durfte, weil er in dem Augenblick, da er sich auf dergleichen einließ, zu etwas Geringerem wurde: zu einem Arzt oder einem Wahrsager. Als er dreizehn war, knapp einen Monat nach seiner Bar Mitzvah, war seine Cousine Miriam an Krebs gestorben, und vielleicht hatte dieser Bewußtwerdungsprozeß damals begonnen, als er, mager und selbst mit dreizehn aussehend wie ein John–Buchan–Held, in einem verdunkelten Raum hoch über dem Grand Concourse auf einer Apfelsinenkiste Schiwa saß und auf seine symbolisch auf halber Höhe abgeschnittene schwarze Krawatte hinabstarrte, denn er erinnerte sich noch, wie Miriams Mann nicht nur Zeit, den Arzt, verflucht hatte, sondern auch das für die Operationen verschwendete Geld und den ganze Amerikanischen Ärzteverband, und wie er haltlos geweint hatte in diesem düsteren, stickigen Zimmer mit den herabgelassenen Jalousien; den jungen Siegel hatte das so verwirrt, daß er, als sein Bruder Mike für das vorklinische Studium nach Yale ging, Angst gehabt hatte, irgend etwas könne schiefgehen und machen, daß Mike, den er liebte, am Ende doch nur ein Arzt wie Zeit werden und eines Tages ebenfalls in einem dämmrigen Schlafzimmer von einem verzweifelten Ehemann in einem geliehenen Anzug verflucht werden würde. So stand er dann reglos in irgendeiner Straße, klammerte sich an die Aktentasche und dachte an Rachel, die ohne Schuhe nur einen Meter fünfundvierzig groß war und einen schlanken, blassen Hals, einen Modigliani–Hals, hatte und deren Augen einander nicht spiegelbildlich entsprachen, sondern sich beide zur selben Seite neigten, so daß sie fast unergründlich schienen - und nach einer Weile tauchte er wieder an der Oberfläche auf und ärgerte sich, daß er sich über solche Dinge den Kopf zerbrach, wo die Unterlagen in seiner Aktentasche doch schon vor fünfzehn Minuten im Büro hätten sein sollen. Widerstrebend mußte er sich eingestehen, daß er diesen Wettlauf gegen die Zeit, das Wissen, nur ein kleines Rädchen im Getriebe zu sein, jenen fast schon schurkischen élan der Playboys in der Commission, der gut zu seinem Erscheinungsbild eines britischen Stabsoffiziers paßte, ja sogar die Intrigen und Konterintrigen zwischen den Abteilungen, die um zwei Uhr morgens in Jazzkellern und Pensionen bei Brandy und Soda ausgebrütet wurden, alles in allem aufregend fand. Aber diese Anfälle von Niedergeschlagenheit überkamen ihn nur, wenn er am Vorabend vergessen hatte, zur Vorbeugung gegen einen Kater seine Vitamin-B-Pillen zu nehmen. Meist behielt der Siegel mit dem klaren Blick und dem zerzausten Haarschopf die Oberhand, und dann betrachtete er diese depressiven Tage lediglich als kurze Verirrungen. Denn bei Licht besehen machte das Intrigieren ja Spaß. In der Armee hatte er sich an die goldene Regel gehalten "Mach den Sergeant fertig, bevor er dich fertigmacht"; später, auf dem College, hatte er Essensgutscheine gefälscht, Protestdemonstrationen und Überfälle auf Studentinnenwohnheime angezettelt und durch Artikel in der Collegezeitung die öffentliche Meinung an der Uni manipuliert. Dieser Teil von ihm war das Erbe einer Mutter, die mit neunzehn in einer heruntergekommenen Absteige in irgendeinem üblen Viertel einen Kampf mit ihrer Seele ausgefochten hatte, dessen Ergebnis gewesen war, daß sie, halb betrunken von geschmuggeltem Bier, Thomas von Aquin widerlegt und der katholischen Kirche den Rücken gekehrt hatte; sie war eine Frau, die liebevoll über ihren Mann grinste, ihn als einen arglosen Einfaltspinsel bezeichnete, der gegen ihre weibliche Gerissenheit nie die geringste Chance gehabt hatte, und Siegel den Rat gab, nie eine Schickse zu heiraten, sondern sich ein nettes, ruhiges jüdisches Mädchen zu suchen, denn bei denen hatte man wenigstens einen fliegenden Start. Dafür hatte ihn sein Zimmergenosse im zweiten Jahr auf dem College "Stephen" genannt und gnadenlos über die damals noch leise Jesuitenstimme gespottet, die ihn davor bewahrte, herumgestoßen zu werden oder Schuldgefühle zu haben oder ganz einfach unfähig zu sein, wie es, behauptete Grossmann, bei so vielen anderen jüdischen Burschen auf dem College der Fall war. "Außerdem, Grossmann", hatte Siegel erwidert, "bewahrt es mich vielleicht auch davor, ein solcher Schmock zu sein wie du." Worauf Grossmann gelacht und sich wieder über sein Buch gebeugt hatte. "Das ist der Keim deines Untergangs", hatte er gemurmelt. "'Ein geteiltes Haus...', du weißt schon." Nun, hier war er also, dreißig und auf dem Weg, Karriere zu machen, und die Möglichkeit seines Untergangs war ihm nicht sonderlich deutlich bewußt, weil er einer so vernichtenden Gewalt weder einen Namen noch ein Gesicht geben konnte, es sei denn vielleicht das Rachels, und das bezweifelte er. Die Flasche unter dem Arm, ging er die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Die paar Regentropfen, die er abbekommen hatte, glitzerten auf dem rauhen Stoff seines Tweedjackets. Er hoffte, daß sie "gegen sieben" gesagt hatte - er war sich dessen zwar ziemlich sicher, aber es wäre peinlich, wenn er zu früh käme. Er drückte auf den Klingelknopf neben der Tür mit der Aufschrift 3F und wartete. Drinnen schien alles ruhig zu sein, und er begann gerade zu überlegen, ob sie vielleicht "gegen acht" gesagt hatte, als sich die Tür öffnete und ein wild aussehender Mann mit buschigen Augenbrauen, der ein Tweedjacket trug und unter dem Arm etwas hielt, das aussah wie ein Ferkelfoetus, ihn anstarrte. Das Zimmer hinter ihm war leer, und verärgert stellte Siegel fest, daß er Mist gebaut hatte und daß dreißig Jahre eine lange Zeit und dies vielleicht die ersten Anzeichen von Senilität waren. Sie standen sich gegenüber wie zwei leicht fehlerhafte Spiegelbilder — verschiedene Tweedmuster, Scotchflasche und Ferkelfoetus, aber beide gleich groß —, wobei Siegel eine Mischung aus Unbehagen und ehrfürchtigem Staunen empfand, und gerade war das Wort "Doppelgänger" in seinen Gedanken aufgetaucht, als der andere seine Augenbrauen wie zwei Parabeln hochzog, seine freie Hand ausstreckte und sagte: "Sie sind zwar früh dran, aber kommen Sie ruhig rein. Ich bin David Lupescu." Siegel schüttelte ihm die Hand, murmelte seinen eigenen Namen, und der Bann war gebrochen; er warf einen Blick auf das Ding, das Lupescu unter dem Arm hatte, sah, daß es sich tatsächlich um einen Ferkelfoetus handelte, bemerkte den schwachen Geruch von Formaldehyd und kratzte sich am Kopf. "Ich hab was zum Trinken mitgebracht", sagte er. "Tut mir leid — ich dachte, Rachel hätte sieben gesagt." Lupescu lächelte kaum merklich und schloß die Tür hinter ihm. "Ich muß erst mal dieses Ding hier loswerden." Er bot Siegel mit einer Handbewegung einen Platz an, nahm ein altmodisches Glas von einem Tisch, zog einen in der Nähe stehenden Stuhl zu einer Tür, die, wie Siegel annahm, in die Küche führte, stellte sich darauf, fischte einen Reißnagel aus der Tasche, den er durch die Nabelschnur des Ferkelfoetus steckte und mit dem Fuß des Glases in den Türrahmen hämmerte. Als er vom Stuhl sprang, schwang der Foetus gefährlich hin und her. Er sah hinauf. "Ich hoffe, das hält", sagte er und wandte sich Siegel zu. "Hübsch, nicht?" Siegel zuckte die Schultern. "Teil einer Dada-Ausstellung, Weihnachten 1919 in Paris", sagte Lupescu. "Anstelle eines Mistelzweiges. Aber zehn zu eins, daß dieser Haufen es nicht mal merken wird. Kennen Sie Paul Brennan? Er wird's nicht merken."

"Ich kenne niemanden", sagte Siegel. "Irgendwie hab ich den Anschluß verloren. Ich bin erst letzte Woche aus Übersee zurückgekommen. Die Leute, die ich von früher kenne, scheinen alle verschwunden zu sein."

Lupescu steckte die Hände in die Taschen und sah sich gedankenverloren im Zimmer um. "Ich weiß", sagte er grimmig. "Starke Fluktuation. Aber die Typen bleiben immer dieselben." Er machte ein paar Schritte zur Küche, warf einen Blick hinein, ging wieder zurück zur Balkontür, fuhr plötzlich herum und zeigte mit dem Finger auf Siegel. "Sie", brüllte er fast. "Natürlich, Sie sind mein Mann." Drohend ging er auf Siegel zu und baute sich vor ihm auf. "Du liebe Zeit", sagte Siegel und sank etwas in sich zusammen. "Mon semblable", sagte Lupescu, "mon frère." Er sah Siegel an. "Ein Zeichen", sagte er, "ein Zeichen, und die Erlösung." Siegel roch den Alkoholdunst in Lupescus Atem. "Ich bitte um Verzeihung", sagte Siegel. Lupescu begann im Zimmer auf und ab zu gehen. "Nur eine Frage der Zeit", sagte er. "Heute nacht. Natürlich. Warum. Warum nicht. Ferkelfoetus. Symbol. Mein Gott, was für ein Symbol. Und jetzt. Freiheit. Erlösung", schrie er. "Geist. Flasche. Jahrhundertelang, bis Siegel, der Seelenfischer, den Korken rauszieht." Immer schneller lief er im Zimmer umher. "Regenmantel", sagte er und hob einen Regenmantel auf, der auf dem Sofa lag. "Rasierzeug." Er verschwand für einen Augenblick in der Küche, und als er zurückkam, hatte er den Regenmantel an und ein Reisenecessaire in der Hand. An der Tür hielt er inne. "Jetzt sind Sie dran", sagte er. "Sie sind jetzt der Gastgeber. Als Gastgeber stellen Sie eine Dreieinigkeit dar: Sie sind a) Empfänger der Gäste" — erzählte es an den Fingern ab — "b) ein Feind, und für die da eine physische Manifestation von göttlichem Fleisch und Blut."

"Moment mal", sagte Siegel, "wo zum Teufel gehen Sie hin?"

"Raus", sagte Lupescu, "raus aus dem Urwald."

"Heh, hören Sie mal... Ich kann das nicht. Ich kenne diese Leute doch gar nicht."

"Gehört alles dazu", sagte Lupescu leichthin. "Sie werden schnell genug merken, wie der Hase läuft" — und bevor Siegel sich eine Antwort überlegen konnte, war er auch schon zur Tür hinaus. Zehn Sekunden später öffnete sie sich wieder, und Lupescu steckte den Kopf herein und zwinkerte mit den Augen. "Mistah Kurtz... is tot", verkündete er eulenhaft und verschwand. Siegel saß da und starrte auf den Foetus. "Meine Güte, was zum Teufel...", sagte er langsam. Er stand auf, ging quer durch das Zimmer zum Telephon und wählte Rachels Nummer. "Nette Freunde hast du", sagte er, als sie sich meldete.

"Wo bist du?" fragte sie. "Ich bin gerade erst heimgekommen." Siegel erklärte ihr alles. "Gut, daß du angerufen hast", sagte Rachel. "Ich hab versucht, dich zu erreichen, aber du warst nicht zu Hause. Ich wollte dir sagen, daß die vierzehnjährige Schwester von Sallys Schwager, ein reizender kleiner Fratz, gerade aus Virginia angekommen ist, wo sie auf irgendeine Mädchenschule geht. Und Sally ist mit Jeff ausgegangen, und darum muß ich hierbleiben und mich um sie kümmern, bis Sally wieder zurück ist, und bis ich hier weg kann, wird nichts mehr zu trinken da sein — ich kenne doch Lupescus Parties."

"Herrgott", sagte Siegel gereizt, "das Ganze ist doch einfach lächerlich! Wenn Lupescus Freunde auch nur entfernt so sind wie er, wird gleich eine Horde tobender Irrer hier hereinstürmen, von denen ich nicht einen kenne. Und du sagst mir, daß nicht mal du kommen kannst."

"Ach, es ist eine nette Clique", antwortete sie. "Ein bißchen merkwürdig vielleicht, aber ich glaube, du wirst sie mögen. Du solltest wirklich dableiben." Plötzlich wurde krachend die Tür eingetreten, und ein fetter junger Bursche mit frischer Gesichtsfarbe, der in einem Matrosenanzug steckte und ein Mädchen Huckepack trug, wankte herein. "Lupäskuh", brüllte der Seemann. "Wo bistu, du rumänischer Heinzelmann?"

"Bleib dran", sagte Siegel. "Bitte noch mal", bat er den Seemann, der seine Passagierin abgesetzt hatte. "Kerlaufemacker, ich sach: Wo is Lupäskuh", sagte der Seemann. "Mein Gott", brabbelte Siegel in den Hörer, "sie kommen, sie brechen durch. Was soll ich bloß tun, Rachel — sie können nicht mal Englisch. Hier ist so eine Art Marinetyp, der eine unbekannte Sprache spricht."

"Herzchen", lachte Rachel, "hör auf, dich wie in einem Kriegsfilm zu benehmen. Das ist wahrscheinlich bloß Harvey Duckworth. Er kommt aus Alabama und hat einen bezaubernden Südstaatenakzent. Du wirst das hervorragend machen, da bin ich ganz sicher. Ruf mich morgen an und erzähl mir alles."

"Warte", rief Siegel verzweifelt, aber sie hatte schon "Bis dann!" gesagt und aufgehängt. Er stand da und hielt den stummen Hörer in der Hand. Harvey Duckworth stampfte durch die anderen Zimmer und schrie nach Lupescu, und das Mädchen, das sehr jung war, langes schwarzes Haar hatte und große Ohrreifen, ein Sweatshirt und Jeans trug — es kam Siegel vor wie eine gelungene Parodie auf die Boheme–Mädchen der vierziger Jahre — stand auf und sah Siegel an. "Ich will mit dir ins Bett gehen", verkündete es dramatisch, und sofort hellte sich Siegels Stimmung auf. Er legte den Hörer auf die Gabel und lächelte. "Da muß ich passen", sagte er verbindlich. "Verführung Minderjähriger und so. Möchtest du was trinken?" Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er in die Küche, wo Duckworth auf der Spüle saß und versuchte, eine Weinflasche zu öffnen. Plötzlich löste sich der Korken, die Flasche rutschte weg, und Chianti floß auf Duckworths weiße Hose. "Meine Fresse", sagte Duckworth und starrte auf den roten Fleck. "Noch nichmals richtige Weinflaschen könn' diese verdammten Spaghettis machen." Es klingelte an der Tür. Siegel rief: "Machst du mal auf, Herzchen?" und hob die Chiantiflasche auf. "Ist noch was drin", bemerkte er fröhlich. Er begann sich heiter und beschwingt zu fühlen. Die Schwerelosigkeit seiner Gedanken mochte eines der ersten Anzeichen von Hysterie sein; er hoffte allerdings, daß es sich dabei eher um einen Rest jener alten Nonchalance handelte, die ihn während der letzten beiden Jahren auf dem Kontinent über die Runden gebracht hatte. Aus dem anderen Raum ertönte etwas, das wie ein Chor von grölenden Randalierern klang, die schmutzige Limericks sangen. Das Mädchen kam herein und sagte: "Mein Gott, es sind Brennan und seine Freunde."

"Na prima", sagte Siegel. "Sie scheinen gut bei Stimme zu sein." Das waren sie wirklich. In der beschwingten Laune, die ihn plötzlich überkommen hatte, schien es Siegel, als bekomme die Schilderung eines jungen Burschen namens Schieber, der eine Affäre mit einem Biber hatte, eine tiefere menschliche Bedeutung, als schimmere sie in einem gewissen transzendentalen Licht, welches ihn an die Schlußszene des Faust erinnerte, in der die goldene Treppe erscheint und Margarethe in den Himmel hinaufsteigt. Wirklich sehr nett, dachte er. Das Mädchen musterte Duckworth mit Abscheu und strahlte dann Siegel an. "Übrigens", sagte es, "ich heiße Lucy."

"Hallo", sagte Siegel. "Ich heiße Cleanth, aber meine Freunde haben Mitleid mit mir und nennen mich Siegel."

"Wo ist David eigentlich? Ich hab mit ihm ein Hühnchen zu rupfen, weil er diesen entsetzlichen Brennan eingeladen hat."

Siegel spitzte die Lippen. Herrgott, diese Situation war einfach unmöglich. Er mußte sich jemandem anvertrauen. Er nahm ihre Hand, führte sie ins Schlafzimmer und setzte sie auf eines der Betten. "Nein", sagte er schnell. "Nicht was du denkst." Nachdem er ihr von Lupescus plötzlichem Verschwinden erzählt hatte, zuckte sie die Schultern und sagte: "Vielleicht war das ganz gut so. Früher oder später wäre er sowieso übergeschnappt — er fing schon an, sich wie ein Eingeborener zu benehmen."

"Das ist eine merkwürdige Art es auszudrücken", sagte Siegel. Sich wie ein Eingeborener benehmen, in Washington, D.C.? In exotischeren Städten, ja sicher, das hatte er schon erlebt. Ihm fiel ein Cartoon von Peter Arno aus dem New Yorker ein, der ihm immer sehr gefallen hatte: Er zeigte ein Mädchen, das wie ein Flittchen zurechtgemacht war und in einem Pariser Straßencafé auf dem Schoß eines verderbt aussehenden Franzosen saß; daneben ihr Freund, bewaffnet mit Kamera, Schultertasche und Reiseführer, offenbar ein amerikanischer Tourist, der ein schockiertes Gesicht machte und gerade sagte: "Soll das heißen, Mary Lou, daß du nie mehr nach Bryn Mawr zurück willst?" Trotzdem — es waren schon merkwürdigere Sachen passiert. Während der zwei Semester, die Siegel in Harvard verbracht hatte, war er Zeuge der schleichenden Degeneration seines Zimmergenossen Grossmann gewesen, eines stolzen und aufrechten Sohnes Chicagos, der die Existenz einer wie auch immer gearteten Zivilisation außerhalb von Cook County kategorisch leugnete und für den Boston noch schlimmer war als Oak Park, nämlich die Apotheose der Blutarmut und des Puritanismus. Grossmann war unbeeindruckt geblieben und hatte sich majestätisch und unbekümmert über alles lustig gemacht — bis zu jenem Heiligabend, an dem er mit Siegel, ein paar Freunden und einigen Radcliffe–Studentinnen auf den Beacon Hill gegangen war, um Weihnachtslieder zu singen. Ob es nun an den diversen mitgeführten Flaschen gelegen hatte oder daran, daß Grossmann gerade nicht nur Santayanas Der letzte Puritaner, sondern auch erhebliche Mengen T. S. Eliot gelesen hatte — und infolgedessen vielleicht eine etwas größere Anfälligkeit gegenüber Traditionen im allgemeinen und dem Heiligabend auf dem Beacon Hill im besonderen besaß —, oder vielleicht nur daran, daß Grossmann die lästige Neigung hatte, in Gesellschaft von Radcliffe-Mädchen sentimental zu werden — jedenfalls hatte ihn dieses Erlebnis doch so bewegt, daß er später an diesem Abend Siegel gegenüber erklärt hatte, es gebe in Boston vielleicht doch das eine oder andere menschliche Wesen. Und das war der erste winzige Riß in jenem mittelwestlichen Stolz gewesen, den er zur Schau getragen hatte wie ein Torero seine Muleta; von jenem Abend an war es mit ihm bergab gegangen. Plötzlich unternahm Grossmann Mondscheinspaziergänge mit den distinguiertesten Mädchen von Radcliffe und Wellesley; er entdeckte in Concord, gleich hinter dem Denkmal für die Freiwilligen des Unabhängigkeitskrieges, ein herrlich lauschiges Fleckchen; er fing an, ständig mit einem schwarzen Stockschirm herumzulaufen, verschenkte seine exzentrische Garderobe und ließ sich neue Anzüge aus makellosen, teuren Tweed– und Kammgarnstoffen machen. All dies beunruhigte Siegel etwas — das ganze Ausmaß des Auflösungsprozesses, in dem sich sein Zimmergenosse befand, dämmerte ihm jedoch erst, als er eines Nachmittages im Vorfrühling die Räume betrat, die sie in Dunster bewohnten, und Grossmann vor dem Spiegel überraschte, wo er, den Schirm unter den Arm geklemmt, mit vornehm hochgezogenen Augenbrauen und aristokratisch geschwungener Nase immer wieder "I parked my car in Harvard yard" sagte. Die ausgeprägten nasalen Rs, die Siegel insgeheim bewundert hatte, klangen jetzt blaß und kraftlos, und Siegel erkannte, daß dieses klassische Schibboleth nichts anderes als der Schwanengesang des armen, unschuldigen Grossmann war. Ein Jahr später erhielt Siegel einen Brief, den letzten: Grossmann hatte ein Wellesley-Mädchen geheiratet und sich in Swampscott niedergelassen. Sit tibi terra levis, Grossmann. Aber Siegel fragte sich, wie zum Teufel es möglich war, in einer Stadt Wurzeln zu schlagen, die so spießig und gleichzeitig so kosmopolitisch war wie Washington. Bürgerlich zu werden oder in die Welt der Arrivierten aufzusteigen, konnte einem in jeder Stadt passieren. Aber vielleicht hatte es auch gar nichts mit dem Ort zu tun, sondern war eine Frage des Zwangs — vielleicht gab es etwas, das Leute wie Gaugin und Eliot und Grossmann verband, irgendeinen Umstand, der ihnen gar keine andere Wahl ließ; und darum fühlte sich Siegel unwohl, nachdem das in Boston passiert war und jetzt — du lieber Himmel! — vielleicht auch in Washington, und dachte lieber nicht zuviel darüber nach. Dieses kleine Jesuitending, dieser Poltergeist, würde anfangen in seinem Kopf herumzuspringen wie damals bei der Sache mit der Aktentasche und in ihm wieder Gedanken an das wahre Land wachrufen, wo man Drinks zu mixen, unbeschwert mit Bonmots um sich zu werfen und sich vielleicht um den einen oder anderen Betrunkenen zu kümmern hatte. Und gerade jetzt machte sich jene leise Stimme wieder bemerkbar. Also bedachte er Lucy lediglich mit einem spöttischen Blick und sagte: "Na ja, ich weiß nicht. Er wirkte etwas daneben. Vielleicht auch ein bißchen neurotisch."

Das Mädchen lachte leise, nicht mehr darauf bedacht, sich Siegel zu angeln, nicht einmal mehr fürs Bett, sondern nur noch mit eigenen Gedanken beschäftigt, und Siegel war weder bereit, auf diese neugierig zu sein, noch zuversichtlich, daß er in der Lage sein würde, mit ihnen fertigzuwerden. "Ein bißchen neurotisch", sagte sie, "ist dasselbe wie ein bißchen schwanger. Du kennst David nicht. Er ist der einzige von uns, der normal ist, Siegel." Siegel lächelte. "Ich sollte gar nichts dazu sagen", bemerkte er, "schließlich gehöre ich nicht dazu. Hör mal, Lucy, würdest du mir ein bißchen helfen mit diesem Verein?"

"Ich soll dir helfen?" Plötzlich war sie kraftlos und antwortete mit einer so seltsamen Mischung aus Schwäche und Hohn, daß er sich zu fragen begann, wie gut sie selbst beieinander war. "Na gut, machen wir ein Geschäft. Gegenseitige Hilfe. In Wirklichkeit brauche ich jemanden, bei dem ich mich ausweinen kann." Der kurze Blick, den Siegel über seine Schulter in die Küche warf, entging ihr nicht. "Um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen", sagte sie lächelnd, "die sind für eine Weile beschäftigt. Sie wissen ja, wo der Alkohol und alles andere ist." Siegel lächelte entschuldigend, stieß die Tür zu und legte sich, einen Ellbogen aufgestützt, neben sie auf das Bett. An der Wand ihnen gegenüber hing ein Original von Klee; zwei gekreuzte Browning-Sturmgewehre, Jagdflinten und einige Säbel waren auf die anderen Wände verteilt. Das Zimmer hatte einen Teppichboden von Wand zu Wand und war spärlich im modernen schwedischen Stil möbliert. Er sah auf sie hinunter und sagte: "Okay, wein dich aus."

"Ich weiß wirklich nicht, warum ich dir das überhaupt erzähle", fing sie an, und ihm war, als habe sie gesagt: "Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt", denn Siegel hatte schon oft daran gedacht, daß all die Penner, die Besoffenen, die verliebten College–Studentinnen und melancholischen Gefreiten, die ganze Schar der Unglücklichen und Ausgestoßenen, die mit dieser Eröffnung an ihn herangetreten waren, aneinandergereiht ganz bestimmt von hier bis zum Grand Concourse und einem ängstlichen Jungen mit Streichholzbeinen und einer abgeschnittenen Krawatte reichen würden. "Vielleicht liegt es daran", fuhr sie fort, "daß du David ähnlich siehst — du hast dasselbe Mitgefühl für jeden, der herumgestoßen wird, irgendwie spüre ich das." Siegel zuckte die Schultern. "Also", sagte sie, "es geht um Brennan und dieses Flittchen Considine." Und dann erzählte sie, wie diese Wirtschaftsexpertin namens Debby Considine vor einer Woche von einer Expedition nach Ontario zurückgekehrt und Paul Brennan ihr unverzüglich wieder nachgestiegen war. Vor ihrem Appartementhaus in der P–Street stand ein Baum, und auf den war Brennan geklettert, hatte gewartet, bis sie herauskam, und dann jedesmal seine Leidenschaft für sie in lauten und improvisierten Blankversen zum Ausdruck gebracht. Meistens hatte sich dann eine kleine Menge Schaulustiger versammelt, und schließlich war eines Nachts die Polizei mit Leitern gekommen, hatte ihn aus dem Baum geholt und davongeschleppt. "Und wen ruft er vom Revier aus an, damit sie die Kaution für ihn stellt?" sagte Lucy. "Mich natürlich. Und das ausgerechnet kurz vor dem Zahltag. Das Miststück hat mir das Geld noch immer nicht zurückgegeben. Und noch dazu war das nicht das erste Mal. Krinkles Porcino - das ist Pauls Zimmergenosse - hat sich irgendwann im Frühjahr mit einem Mädchen namens Monica verlobt. Die zwei waren richtig verliebt ineinander, und Paul mochte sie beide, und als Sybil - die lebte damals mit David zusammen - dann anfing, sich an Krinkles ranzumachen, und drohte, die ganze Sache platzen zu lassen... Na, jedenfalls kam es dann schließlich zu einer Riesenszene mit Paul in der Halle des Mayflower, und Paul zog ihr eins mit der Wodkaflasche über, die er zufällig dabei hatte, und dafür kriegten sie ihn wegen schwerer Körperverletzung dran. Und David ging es danach natürlich ziemlich schlecht, weil es ihm ausgesprochen zuwider ist, in irgend etwas reingezogen zu werden, aber Sam Fleischmann, der Paul aus tiefstem Herzen haßt, seit Paul ihm für hundert Dollar faule Uranaktien angedreht hat, hatte solches Mitleid mit David, daß er anonyme Briefe an Sybil schrieb, in denen er Paul die Schuld an der ganzen Sache gab. Er hat sie morgens, gleich nach dem Aufstehen geschrieben, während ich das Frühstück gemacht hab, und wir hatten einen solchen Spaß, daß wir uns schiefgelacht haben."

"Oh", sagte Siegel, "ha, ha."

"Und als Paul dann rauskam", fuhr sie fort, "kriegte Harvey auch noch eine Wut auf ihn, weil er wußte, daß ich in Paul verliebt war und ihm Zigaretten und Kekse und andere Sachen in den Knast geschickt hatte, und er hat Paul eines Nachts mit einem Bootsmannsmesser sieben Blocks weit durch das Theaterviertel gejagt. Das war auch ziemlich lustig, denn Harvey war in Uniform, und sie brauchten vier Marinepolizisten, um ihn zu überwältigen, und selbst dann hat er einem von ihnen den Arm gebrochen, und ein anderer mußte mit schweren Bauchverletzungen ins Bethesda-Marinehospital. Paul ist jetzt also auf Kaution draußen und hat gedroht, Monica fertigzumachen, weil sie mit Sam zusammenlebt — aber was bleibt ihr denn auch anderes übrig, wo Krinkles doch seit Wochen nicht mehr in der Stadt ist, weil er von der Nadel loskommen will. Das Blöde ist, daß dieser verdammte Junkie gar nicht weiß, wie gut sie ist, Siegel. Vor ein paar Tagen erst hat sie Krinkles' Bariton–Saxophon versetzt, weil der arme Sam gerade seinen Job beim Smithsonian verloren hatte und wirklich gehungert hat, bevor sie davon erfahren und ihn bei sich aufgenommen hat. Das Mädchen ist eine Heilige." So ging es noch eine Viertelstunde weiter. Wie ein ungeschickter Neurochirurg legte sie Synapsen und Windungen frei, die besser verborgen geblieben wären, und enthüllte Siegel die Anatomie einer Krankheit, die ernster war, als er vermutet hatte: die Ödnis des Herzens, in der Schatten, das Gewirr sich überkreuzender Fäden von ungenauen Selbstanalysen und freudianischen Fehlschlüssen sowie gewisse Passagen, in denen Licht und Perspektive trügerisch waren, einen in jenen Zustand erhöhter hysterischer Nervosität versetzten, den man von Alpträumen kennt, in denen man die Augen offen hat und alles ganz vertraut ist, nur daß hinter der Schranktür, unter dem Sessel in der Ecke, jenes je ne sais quoi de sinistre lauert, das einen schreiend erwachen läßt.

Bis schließlich einer von Brennans Freunden, den Lucy als Vincent vorstellte, hereinkam und ihnen mitteilte, daß bereits jemand auf den Balkon getreten war, ohne zuvor die Tür zu öffnen, und mißmutig stellte Siegel fest, daß es also diese Art von Party werden würde, und da er dadurch, daß er sich neben dieses Mädchen, das er überhaupt nicht kannte, gelegt und ihr seine Schulter zum Ausweinen zur Verfügung gestellt hatte, ohnehin schon Verantwortung übernommen hatte, beschloß er in echter britischer Stabsoffiziersmanier, sich in das Unvermeidliche zu schicken und das Beste daraus zu machen.

In der Küche saß ein Pärchen knutschend auf der Spüle; Duckworth lag sternhagelvoll auf dem Boden und warf mit Pistazien nach dem Ferkelfoetus; vier oder fünf Leute in Bermuda–Shorts saßen im Kreis und spielten Prince. Im anderen Zimmer hatte jemand eine Cha–cha–Platte aufgelegt, und einige Paare tanzten frei improvisierend dazu. Mit der trügerischen Helligkeit eines Wetterleuchtens zuckten vermutlich intelligente Gespräche durch den Raum: Innerhalb einer Minute schnappte Siegel die Wörter "Zen", "San Francisco" und "Wittgenstein" auf und fühlte sich leicht enttäuscht, fast so, als habe er esoterischere Wörter erwartet, vielleicht etwas von Albertus Magnus. Außer dem Ferkelfoetus gab es nur eine Sache, die nicht ganz in diese Szene paßte: Eine dunkelhäutig wirkende Gestalt in zerrissenen Kkakihosen und einem alten Kordjackett stand in sich gekehrt und schwermütig in einer Ecke wie eine Mahnung an den Tod. "Das ist Considines neueste Eroberung", sagte Lucy, "ein Indianer, den sie aus Ontario mitgebracht hat. Meine Güte, was für ein Kleiderschrank."

"Er sieht traurig aus", sagte Siegel. Jemand drückte ihm ein altmodisch geformtes Glas mit einer dubiosen Mischung in die Hand, und ganz automatisch nahm er einen Schluck, verzog das Gesicht und stellte es ab. "Er heißt Irving Loon", sagte sie verträumt.

"Irving wie?" fragte Siegel.

"Loon. Er ist Ojibwa-Indianer. Oh, da ist Paul. Redet mit Considine, der Scheißkerl." Sie führte ihn in eine Ecke, wo ein kleinwüchsiger Abteilungsleitertyp eifrig auf eine schlangengleiche Brünette mit stark geschminkten Augen einredete. Beim ersten Anblick von Debby Considine zog Siegel leise pfeifend die Luft ein, bewegte die vier Finger seiner linken Hand einige Male auf und ab und vergaß Irving Loon, Prince–Spieler und besoffene Seemänner. "Marrone", flüsterte er. Lucy funkelte ihn an. "Jetzt nicht du auch noch", sagte sie wütend. "Herrgott, die Sexmaschinen!" Er wurde vorgestellt, und nach einem Weilchen gelang es Lucy, Brennan mit Hilfe irgendeines Vorwandes loszueisen, und Siegel war mit der Wirtschaftsexpertin allein. "Wie war's in den Wäldern von Ontario?" fragte er. Sie sah ihn mit halb geschlossenen Lidern an. "Ausgesprochen faszinierend", murmelte sie mit belegter, gleichgültiger Stimme. "Kennst du die Ojibwa?" Fieberhaft begann Siegel einen Stapel mentaler IBM–Karten durchzublättern. Es gab etwas, das er über sie wußte, etwas, das er auf dem College gehört hatte. Es ärgerte ihn, daß er nicht in der Lage war, die Information abzurufen, denn schließlich hatten die meisten Kurse, die er belegt hatte, keinen anderen Zweck gehabt als den, die Studenten mit Material zu versorgen, das es ihnen ermöglichte, auf Parties wie dieser hier Konversation zu machen — das jedenfalls war während der ersten Studienjahre der Kern seiner Kritik gewesen. Ojibwa–Indianer. Irgendwo in Ontario. Da gab es irgend etwas Seltsames, ja Komisches, aber es fiel ihm einfach nicht ein. "Du siehst aus wie einer, der Mitgefühl hat", sagte Debby plötzlich. "Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?", und Siegel, aus seinen IBM-Karten gerissen, dachte: Du lieber Himmel — schon wieder! Er führte sie ins Schlafzimmer, das ihm langsam vorkam wie ein pervers ausgestatteter Beichtstuhl, und fragte sich, ob dies der Ort gewesen war, wo David Lupescu den Bekenntnissen niedergedrückter Seelen gelauscht hatte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß seine Vermutung richtig war. Debbie stand dicht vor ihm, spielte mit seiner Charly–Krawatte und brachte noch einmal die schamhafte Nummer mit den Wimpern. "Du bist genauso", flüsterte sie, "du hast dieselbe unglaubliche Gelassenheit wie Lupescu. Bist du sicher, daß du nicht sein Doppelgänger bist?"

"Nein", sagte Siegel, "bin ich nicht. Laß hören." Sie zögerte, und er half ihr: "Vergib mir, Vater..."

Sie riß die Augen auf. "Das hat David auch immer gesagt. Wer bist du, Siegel?"

"Im Augenblick ein Beichtvater. Was hast du auf dem Herzen, mein Kind?"

"Es geht um Irving Loon", sagte sie, setzte sich auf das Bett, spielte mit dem leeren Highball–Glas, das sie mitgebracht hatte, und ignorierte die Ironie in seinen Worten. "Dort oben in Ontario war er so glücklich. Weißt du, es war die Zeit der Reisernte, und da kommen alle Familien zusammen. Jeder ist glücklich: Gemeinschaft im Ojibwa–Land. Besäufnisse, Streitereien, Sexorgien, gemeinsames Singen, Initiationsrituale. Jede Menge wunderbares Lokalkolorit, mit dem man ein Notizbuch nach dem anderen füllen kann. Und Irving Loon, drei Meter groß, mit Fäusten wie Felsbrocken — ein Mann, der selbst ein abgebrühtes Herz wie meins mit Sehnsucht erfüllen kann." Dann begann sie unvermittelt — und zu Siegels Unbehagen - die Affären aufzuzählen, die sie in all den unterentwickelten Gebieten gehabt hatte, welche sie im Auftrag des Außenministeriums aufgesucht hatte; es waren mehrere Seiten einer inoffiziellen Statistik, die ein bißchen wie die Katalogarie aus Don Giovanni klang. Es schien, als habe sie die Angewohnheit, sich, wohin sie auch ging, männliche Musterstücke anzueignen, die sie mit nach Hause brachte, um sie nach ein paar Wochen wieder fallenzulassen. Ihre Ehemaligen fanden entweder Anschluß an die Clique oder verschwanden ganz und gar und für immer. Irving Loon jedoch war anders, da war sie ganz sicher. Er hatte so etwas Brütendes, James Deanhaftes. "Den ganzen Abend schon steht er in ein und derselben Ecke", sagte sie. "Seit zwei Wochen hat er kein Wort mehr gesagt. Ich habe das Gefühl," — ihre Augen blickten über Siegels Schulter Gott weiß wohin — "daß das nicht bloß das Heimweh nach der Wildnis ist, sondern daß er irgendwo da draußen in den Wäldern, wo es nichts gibt außer Schnee und Wald und ein paar Biber und Elche, mit irgendwas in Berührung gekommen ist, das Stadtbewohner ihr ganzes Leben lang nicht finden, von dem sie vielleicht nicht mal wissen, daß es existiert, und daß es das ist, was ihm fehlt und was die Stadt abtötet oder von ihm fernhält." — Ich werd verrückt, dachte Siegel, die Kleine meint das ernst. — "Und genau das ist es auch, was ich Paul nicht klarmachen kann", seufzte sie. "Er macht sich über Irving lustig, nennt ihn einfältig. Aber in Wirklichkeit ist das eine göttliche Melancholie, und genau das ist es, was ich an ihm liebe."

Du lieber Himmel, ja, das war es!

Melancholie. Rein zufällig hatte sie dieses Wort, den psychologischen Fachausdruck, gebraucht und nicht "Traurigkeit" gesagt. Der kleine Professor Mitchell, der in der Ethnologievorlesung wie ein Spatz auf dem Pult gehockt hatte — die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben, den einen Winkel seines Mundes zu einem ständigen sarkastischen Grinsen verzogen — und über Psychopathie bei den Ojibwa–Indianern sprach. Die gute alte Datenbank funktionierte also doch noch. "Sie dürfen nicht vergessen, daß dieser Stamm immerfort vom Hunger bedroht ist", sagte Mitchell in jenem mißbilligenden, rechtfertigenden Tonfall, mit dem er zu verstehen gab, daß für ihn alle Kulturen gleichermaßen verrückt waren — ihr Wahnsinn unterschied sich allenfalls äußerlich, nie aber inhaltlich. "Man sagt, das Ethos der Ojibwa sei von Angst bestimmt." Fünfzig Stifte schrieben diesen Satz mit. "Von Kindesbeinen an werden die Ojibwa im Hungern geübt; die gesamte Erziehung der männlichen Kinder ist auf ein einziges Ziel ausgerichtet: ein großer Jäger zu werden. Unabhängigkeit und Isolation stehen im Vordergrund. Sentimentalität hat bei den Ojibwa keinen Raum. Sie führen ein hartes, freudloses Leben, und der Tod steht immer neben ihnen. Bevor er in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen wird, muß ein Junge, nachdem er mehrere Tage gehungert hat, eine Vision gehabt haben. Nach dieser Vision hat er oft das Gefühl, einen übernatürlichen Begleiter zu haben, und es besteht die Tendenz, sich mit diesem zu identifizieren. In der Wildnis, wo zwischen ihm und dem Hungertod nur ein paar Biber, Hirsche, Elche und Bären stehen, kann diese Identifikation für den Ojibwa–Jäger vollkommen werden, denn er hat das Gefühl, sich in höchster Not zu befinden, und glaubt, geheimnisvolle kosmische Kräfte seien gegen ihn und ihn allein gerichtet, zynische Terroristen, wilde und moralisch indifferente Gottheiten," — hier drückte das Lächeln einen Selbstvorwurf aus — "die es auf seine Vernichtung abgesehen haben. Wenn solche paranoiden Tendenzen durch das von starker Konkurrenz geprägte Leben in den Sommerdörfern während der Reis– und Beerenernte oder vielleicht durch den Fluch eines Schamanen, der einen persönlichen Haß auf den Betreffenden hat, intensiviert werden, wird der Ojibwa äußerst anfällig für die bekannte Windigo–Psychose." Für Siegel war Windigo nichts neues. Er erinnerte sich an die entsetzliche Angst, die er im Ferienlager gehabt hatte, als man am Feuer Geschichten von einem tausend Meter großen Skelett aus Eis erzählt hatte, das dröhnend und krachend durch die kanadischen Wälder stapfte, Menschen packte und sie auffraß. Er hatte jedoch die Alpträume seiner Kindheit weit genug hinter sich gelassen, um leise in sich hineinzulachen, als der Professor einen halb verhungerten Jäger beschrieb, der sich, bereits leicht gestört, mit Windigo identifizierte und in einen rasenden Kannibalen verwandelte, welcher die Wildnis nach noch mehr Fleisch durchstreifte, nachdem er sich den Bauch bereits mit seinen engsten Familienangehörigen vollgeschlagen hatte. "Mußt du dir mal vorstellen", hatte er an jenem Abend zu Grossmann gesagt, als sie vor ihren Krügen mit Würtzburger Bier saßen. "Wahrnehmungsveränderung. Hunderte, Tausende dieser Indianer auf Gott weiß wie vielen Quadratkilometern beobachten sich aus den Augenwinkeln und sehen ihre Frauen, Männer oder kleinen Kinder. Was sie sehen, sind große, fette, saftstrotzende Biber. Und diese Indianer sind hungrig, Grossmann. Ich meine: wirklich. Eine riesige Massenpsychose. So weit das Auge reicht" — er machte eine dramatische Geste — "Biber. Fleischig, saftig, fett."

"Netter Gedanke", hatte Grossmann gesagt und das Gesicht verzogen. Sicher — auf eine verdrehte Art war das amüsant. Es war etwas, über das Ethnologen schreiben und Leute auf Parties reden konnten. Faszinierend, diese Windigo–Psychose. Und seltsamerweise gingen die ersten Stadien mit tiefer Melancholie einher. Das war es auch gewesen, was ihm all das in Erinnerung gerufen hatte: eine zufällige Verbindung von Worten. Er fragte sich, warum Irving Loon seit zwei Tagen nicht mehr gesprochen hatte. Er fragte sich, ob Debby Considine von diesem Bereich der Ojibwa–Persönlichkeit wußte. "Und Paul will es einfach nicht verstehen", sagte sie gerade. "Natürlich war es gemein von mir, die Polizei zu holen, aber ich konnte nicht mehr schlafen, ich mußte an ihn denken, wie er da in dem Baum hockte, wie ein böser Geist, und "Versuch’s mal mit ein bißchen weniger Wimperntusche oder so", aber eine Einsicht, die ihn seit Lupescus Abgang in den tieferen Regionen seines Bewußtseins überkommen hatte, ließ ihn innehalten — eine verschwommene Vorstellung von der Rolle, die Lupescu für diese Gruppe gespielt hatte. Er wußte, daß sein Doppelgänger nie etwas Derartiges gesagt hätte. Man konnte jemandem die Absolution erteilen oder eine Buße auferlegen, keinesfalls aber einen praktischen Ratschlag geben. Cleanth Siegel, S.J., zog sich in die behagliche Pfarrei seines Geistes zurück und betrachtete die Szene mit Wohlgefallen. "Laß uns kurz das Thema wechseln", sagte er. "Hat dir Irving jemals was von Windigo erzählt?"

"Komisch, daß du mich danach fragst", sagte sie. "Es ist eine Naturgottheit oder so, die sie verehren. In Ethnologie kenne ich mich nicht aus, sonst könnte ich dir mehr darüber erzählen. Aber das letzte Mal, daß Irving gesprochen hat — er kann ja so gut Englisch —, hat er unter anderem gesagt: 'Windigo, Windigo, verlaß mich nicht!' Ich finde das rührend - diese Poesie, diese Religiosität." Und genau in diesem Moment begann Siegel, sich wirklich unbehaglich zu fühlen, diese winzige, nervtötende Dissonanz wahrzunehmen. Poesie? Religiosität? Ha, ha. "Ich habe Angst", sagte sie jetzt. "Ich fühle mich so deprimiert, so erschöpft. Schon als kleines Mädchen hatte ich Angst, von einem Meteoriten getroffen zu werden — ist das nicht albern? Diese Angst vor dem Unbekannten, vor so einer Art von blinder höherer Gewalt oder so. Vor zwei Jahren war es schlimm, sehr schlimm, und ich hab versucht, diesen Zustand auf meine Art zu beenden, nämlich indem ich einiges mehr als die verschriebene Dosis Seconal nahm. Als das nicht klappte, war ich bald wieder obenauf, zwei Jahre lang, aber ich schätze, jetzt geht’s wieder abwärts."

Siegel setzte sich plötzlich auf und starrte geradeaus auf die Brownings, die gekreuzt an der Wand hingen. Er hatte langsam genug. Lupescu hatte unrecht gehabt: Bei diesen Dingen merkte man ganz und gar nicht schnell, wie der Hase lief. Es war ein langsamer Prozeß, und gefährlich obendrein, denn in seinem Verlauf konnte es sehr leicht geschehen, daß man nicht nur sich selbst, sondern auch seine Gemeinde vernichtete. Er nahm ihre Hand. "Komm", sagte er, "ich möchte Irving kennenlernen. Als Buße wirst du zehn Ave Maria beten, und ich erwarte aufrichtige Reue."

"Mein Gott", murmelte sie, "es tut mir wirklich schrecklich leid...", und anscheinend stimmte das, aber wahrscheinlich nur, weil er ihr Gespräch so abrupt beendet hatte.

In der Küche mußten sie über einige reglose Körper steigen. Nach der Cha-cha-Platte hatte man Bartoks "Konzert für Orchester" aufgelegt, und Siegel stellte mit grimmigem Lächeln fest, daß das gut zu dieser Situation paßte, denn er wußte, daß er jede Musik außer der dieses verrückten Ungarn hören konnte, ohne durchzudrehen, aber beim Klang eines ganzen Streichersatzes, der plötzlich Amok lief, der aufschrie wie eine Alraune, die man aus der Erde gezogen hat, und versuchte, sich selbst in der Mitte durchzureißen, begann der flinke kleine Machiavelli in ihm, den Menschen, der gerade seine Jugend hinter sich gelassen hatte und immer noch unablässig Schiwa für Debby Considine und Lucy und sich selbst und all die anderen Toten saß, mit irgend etwas zu bewerfen, um ihn so dazu zu bringen, etwas zu unternehmen; er fragte sich, ob die Diagnose, die Lucy über Lupescus Schwierigkeiten abgegeben hatte, nicht vielleicht falsch war, und ob er, Siegel, sich eines Tages mit einem Ferkelfoetus unter dem Arm vor einem Spiegel wiederfinden und sich selbst freudianisches Kauderwelsch vortragen würde, um die richtige Modulation zu üben.

"Irving Loon", sagte Debby, "Cleanth Siegel." Irving Loon stand bewegungslos da und schien ihre Gegenwart überhaupt nicht zu bemerken. Debby legte ihre Hand auf seinen Arm und streichelte ihn. "Irving", bat sie ihn leise, "sag doch was." Scheiß auf die Torpedos! dachte Siegel. Volle Kraft voraus! "Windigo", sagte er ruhig, und Irving zuckte zusammen, als hätte man ihm einen Eiswürfel in den Kragen gesteckt. Er musterte Siegel unverwandt aus schwarzen, stechenden Augen. Dann wandte er seinen Blick Debby zu und lächelte schwach. Er legte den Arm um ihre Taille und rieb seine Nase an ihrer Wange. "Debby", murmelte er, "mein süßer kleiner Biber."

"Ist das nicht goldig?" sagte Debby und lächelte Siegel über ihre Schulter an. Mein Gott, dachte Siegel. Oh, nein. Biber? He, Moment mal! — Jemand zupfte Siegel am Ärmel. Nervös fuhr er herum und sah Brennan. "Kann ich dich mal kurz unter vier Augen sprechen?" fragte Brennan. Siegel zögerte. Irving Loon und Debby flüsterten sich Zärtlichkeiten zu. "Na klar, natürlich", sagte Siegel geistesabwesend. Über knirschende Glassplitter traten sie auf den kleinen Balkon, was Siegel ganz recht war, denn das Schlafzimmer begann ihm auf die Nerven zu gehen. Der Regen war in leichten Nebel übergegangen, und Siegel schlug den Kragen hoch. "Man hat mir gesagt, daß du ein ziemlich einfühlsamer Mensch bist", begann Brennan, "und ich schätze, du weißt, wie die Dinge zwischen mir und Debby stehen. Ich muß sagen, daß mir dieser Indianer Sorgen macht."

"Mir auch", wollte Siegel erwidern, aber er beherrschte sich. Seine Theorie, warum Irving Loon nicht sprach, stützte sich lediglich auf einen Verdacht, und diese ganze absurde, surrealistische Atmosphäre hatte ihre Wirkung auf seine Phantasie, die, wie er wußte, gelegentlich über die Stränge schlug, nicht verfehlt. So sagte er statt dessen: "Das kann ich recht gut verstehen." Brennan setzte eine Verschwörermiene auf. "Ich glaube, er hypnotisiert sie", sagte er vertraulich und warf rasche Blicke nach drinnen, um zu sehen, ob sie jemand belauschte. Siegel nickte tiefsinnig. Brennan machte sich daran, seine Version der Baum–Episode auszubreiten, und als er fertig war, stellte Siegel, der gar nicht richtig zugehört hatte und nun zum ersten Mal an diesem Abend auf die Uhr sah, zu seiner Überraschung fest, daß es fast elf war. Ein paar Leute waren schon gegangen, und die Party zeigte die ersten Auflösungserscheinungen. Siegel schlenderte in die Küche, wo er eine halbe Flasche Scotch fand, und machte sich einen Scotch on the Rocks — tatsächlich sein erster Drink, seitdem er gekommen war. Er stand allein in der Küche und versuchte, die Lage einzuschätzen. Erstes Stadium: Melancholie. Zweites Stadium: direkte Gewaltanwendung. Wieviel hatte Irving Loon getrunken? Welchen Einfluß hatte Hunger auf die Psychose, wenn sie erst einmal eingesetzt hatte? Und dann wurde ihm mit einemmal die ganze Ungeheuerlichkeit der Situation bewußt. Denn wenn er mit diesem Verdacht recht hatte, stand es in seiner Macht, eine Art Wunder für seine Schäfchen zu wirken und sie ganz konkret vor dem Verderben zu bewahren — ein Wunder, das zwar einen Gastgeber erforderte, aber keine heilige Hostie. Außer Irving Loon war er der einzige, der Bescheid wußte. Außerdem, erinnerte ihn jedoch eine nüchterne Stimme, war er offenbar der einzige, dessen Kenntnisse über die Ojibwa sich auf die Windigo–Psychose beschränkten. Es konnte eine Verallgemeinerung sein, möglicherweise liefen bei Irving Loon ganz andere Sachen falsch. Und doch — vielleicht... Eine Gewissensfrage. Vincent trat zu ihm und wollte ihn sprechen, aber er winkte ab. Siegel hatte genug von Beichten. Er fragte sich, wie sein Vorgänger es ausgehalten hatte, so lange Beichtvater zu sein. Die Bemerkung, die Lupescu bei seinem Abgang gemacht hatte, war, wie ihm nun schien, kein Witz eines Betrunkenen gewesen. Es war, als sei dieser Mann in Wirklichkeit, wie ein zweiter Kurtz, vom Herz einer Finsternis besessen gewesen, in der kein Elfenbein jemals aus dem Landesinneren geschickt, sondern von jedem der Agenten eifersüchtig gehortet wurde, die damit in mühsamer Arbeit, Stück für Stück, Tempel zu Ehren eines Imagos oder irgendeiner fixen Idee errichteten — Tempel, die innen mit Träumen und Alpträumen verziert und vor einem feindseligen Urwald verschlossen waren. Jeder "Agent" hatte seinen eigenen Elfenbeinturm, der kein Fenster besaß, durch das man hätte hinaussehen können, und zog sich immer weiter in sich selbst zurück, um eine kleine Flamme hinter dem Altar zu hüten. Und auch Kurtz war ja auf seine Weise ein Beichtvater gewesen. In dem Bestreben, einen klaren Gedanken zu fassen, schüttelte Siegel den Kopf. Im anderen Raum hatte ein Würfelspiel begonnen, und Siegel setzte sich auf den Küchentisch, ließ ein Bein baumeln und sah dem Treiben zu. "Ihr seid schon ein prächtiger Haufen", murmelte er.

Er dachte gerade darüber nach, ob er all diesen Leuten raten sollte, sich zum Teufel zu scheren, als er bemerkte, daß Irving Loon wie im Traum, den Blick starr geradeaus gerichtet und ohne irgend etwas wahrzunehmen, unter dem Ferkelfoetus hindurch in die Küche trat. Unfähig, sich zu rühren, sah Siegel, daß Irving Loon ins Schlafzimmer ging, einen Stuhl an die Wand zog, sich darauf stellte und ein Gewehr vom Haken nahm. Völlig vertieft in das, was er tat, begann der Indianer, die Schubladen von Lupescus Schreibtisch zu durchwühlen. Beherzt ließ Siegel sich vom Tisch gleiten und schlich auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht stellte Irving Loon, unentwegt vor sich hin singend, eine Schachtel mit 30er Patronen auf den Tisch. Beschwingt fing er an, das Magazin zu laden. Siegel zählte die Patronen mit. Zwanzig paßten in das Magazin. — Na gut, Siegel, sagte er zu sich selbst, jetzt ist es also soweit. Der Augenblick der Wahrheit. Die Espada ist zerbrochen, die Muleta liegt im Staub, das Pferd ist aufgeschlitzt, den Picadores ist schlecht vor Angst. Fünf Uhr nachmittags, die Menge tobt. Der Miura–Stier greift an, und seine Hörner sind spitz. — Er schätzte, daß ihm noch etwa sechzig Sekunden blieben, um eine Entscheidung zu treffen, und angesichts der Tatsache, daß es nun wirklich in seiner Macht stand, ein Wunder zu wirken, jubelte die immer noch leise Jesuitenstimme in ihm jetzt mit demselben Frohlocken, das damals über Siegel gekommen war, als er fünfhundert hysterische Erstsemester in das Studentinnenwohnheim hatte stürmen sehen und dabei gewußt hatte, daß niemand anderer als er hinter dieser Sache steckte. Und der andere, sanftere Teil von ihm sang Kaddisch für die Toten und beklagte das jesuitische Frohlocken, sah jedoch ein, daß diese Art der Buße ebenso gut war wie irgendeine andere; das einzige Bedauerliche war, daß nur Irving Loon des göttlichen oder sonstwie gearteten Fleisches und Blutes teilhaftig werden würde. Es dauerte nur fünf Sekunden, und beide Teile waren übereingekommen, daß es hier eigentlich nur eine einzige Lösung gab.

Leise und ohne Eile ging Siegel durch die Küche zurück, durchquerte, unbeachtet von den Würfelspielern, das Wohnzimmer, öffnete die Wohnungstür, trat auf den Korridor und schloß hinter sich die Tür. Vor sich hinpfeifend, ging er die Treppe hinunter. Als er in der ersten Etage war, vernahm er die ersten Schreie, ein Rumpeln, das Klirren von Glas. Er zuckte die Schultern. Es waren in Washington schließlich schon seltsamere Dinge passiert. Erst als er auf der Straße war, hörte er oben die ersten Schüsse.

Sterblichkeit und Erbarmen in Wien
(alternative Übersetzung)

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