Gravity’s Rainbow Episode 1(9-16) (3-7)

(Seitenzahlen: 1. Zahl: Rowohlt 1981, 2. Zahl: Viking 1973)

Die Zeit ist Montag, der 18. Dezember 1944, der Ort ist London: Evakuierung, Eisenbahn, Krieg.

Ein Anfang: die Umkehrung der binären Oppositionen: Norden versus Süden, Winter versus Sommer, Tod versus Leben, Elect versus Preterite, Rilke, der Traum des Geoffrey ‘Pirate’ Prentice, das Tarot, der Punkt Null (Zero), Schwerkraft versus Fliegen: Incoming mail from the Netherlands, V2 – die Rakete als zentrale Metapher des Romans, das kosmische Netz.


powered by FreeFind – Search Engine for all Pages on this Website

Ein Anfang

Fast alle Bilder in Gravity’s Rainbow lassen sich erschließen, wenn man die Struktur der binären Oppositionen für den Roman zugrundelegt, wie sie aus der poststrukturalistischen Literaturtheorie abgeleitet werden kann (siehe Dekonstruktion ). Eine fundamentales Gegensatzpaar ist hierbei die Dialektik von Textwelt und wirklicher Welt.

Im ersten Kapitel seiner Aufsatzsammlung The Art of Fiction stellt David Lodge die scheinbar unsinnige und doch so wichtige Frage, wann eigentlich ein Roman beginnt. Der Eröffnungssatz, der den Leser an den Roman fesseln soll, spielt dabei natürlich eine zentrale Rolle, denn er soll den Leser in die imaginäre Welt des Autors hineinziehen:

"(…) the beginning of a novel is a threshold, separating the real world from the world the novelist has imagined."
(Lodge, p. 5)
Bei Pynchon ist diese imaginäre Gegenwelt des Romans die Welt der Gothic Literature, jene Schattenwelt des übernatürlichen Terrors, der unerklärlich und alptraumhaft, plötzlich und scheinbar ohne jeglichen Sinn über unsere Alltagsrealität hereinbricht wie ein Bombenangriff über eine friedliche Stadt. Der Roman beginnt denn auch mit dem Traum des Pirate Prentice, den der Horror der realen Welt, das von einer V-2 verursachte Geräusch, aus diesem weckt.

Nach Douglas Fowler kann man keine literarische Gegenwelt präsentieren, ohne hierbei von dieser, unserer Welt als Startpunkt auszugehen:

"There is no way to present any alternative reality to us without using this reality as a point of departure, or as a metaphor."
(Fowler p. 13)
In einer säkularisierten Welt, die nicht mehr an böse Geister glaubt, muß es eine andere Quelle für das Böse geben, das über uns hereinbricht. In der Science-fiction als eines der Subgenres der Gothic Literature ist dies oftmals die Technik, die stets ambivalent, zum Schaden oder zum Nutzen der Menschen eingesetzt werden kann. Doch während sich in Arkadi und Boris Strugatzkis Der ferne Regenbogen (1964) die Wissenschaftler gegen ihr Wissen und für die Menschen entscheiden, als ihnen ein Experiment aus dem Ruder läuft, sind bei Pynchon die Menschen selbst zur Verfügungsmasse der Wissenschaftler geworden, die, wie Wernher von Braun im Konzentrationslager Dora ihre Arbeit bar jeder Moralität verrichten.

Fowler weist ferner darauf hin, daß Gravity’s Rainbow voll von Anspielungen auf Rilkes Duineser Elegien sowie Die Sonette des Orpheus ist (Fowler, p. 42 ), und wie ein Vergleich zeigt, scheint bereits der Eröffnungssatz des Romans eine Anspielung auf den Anfang der Ersten Elegie zu sein:

"Ein Heulen kommt über den Himmel. Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber läßt sich nichts vergleichen." (9)

"A screaming comes across the sky. It has happened before, but there’s nothing to compare to it now." (3)

"Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?
und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz:
ich verginge von seinem stärkeren Dasein.
Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang,
den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es,
weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.
Ein jeder Engel ist schrecklich."
(R. M. Rilke, p. 11), Rilke bei Gutenberg.de

Dies sieht auch Richard Locke in seiner New York Times Buchbesprechung so und zitiert den Beginn der Elegien.
"Who, if I screamed, would hear me among the angelic orders?
And even if one of them suddenly pressed me against his heart,
I would fade in the strength of his stronger existence.
For Beauty is nothing but the beginning of Terror
that we’re still just able to bear, and why we adore it
is because it serenely disdains to destroy us."
(R. M. Rilke, Duineser Elegien, zitiert von:
Richard Locke, One of the Longest, Most Difficult, Most Ambitious Novels in Years, NYT, March 11, 1973)
Pynchons Imagination, die mit dem Eröffnungssatz beginnt, der eine versteckte Rilke-Anspielung darstellt, ist durch den Gegensatz zwischen unserer Welt und einer höheren Ordnung, dem "Other Kingdom", gekennzeichnet. Man darf sich dieses "Other Kingdom" aber nicht mit christlichen Heilsvorstellungen vorstellen, sondern muß den Maßstab wählen, den Rilke in Pynchon’s Lesart aufzeigt. Jeder Engel in Gravity’s Rainbow ist schrecklich, ein Engel des Todes und lediglich ein Vertreter des "Other Kingdom," das keine Erlösung verspricht, sondern, wie wir noch sehen werden, Tod in mehr–Tod verwandelt.

Pynchon kehrt die gewohnte jüdisch–christliche Vorstellung von Engeln, die wir unseren Kindern erzählen, um. Die Vorstellung des Schutzengels, des Guardian Angels, wird in ihr Gegenteil, den des Racheengels verkehrt.

Weiterhin ist in diesem Zusammenhang festzustellen, daß Pynchon mit diesem Verweis auf Rilke gleichzeitig William Gaddis seine Referenz erweist, der den ersten Teil seines Romans Die Fälschung der Welt mit diesem Rilke-Zitat beendet.

Der Traum des Geoffrey ‘Pirate’ Prentice

Warum beginnt Pynchon diesen Roman von einem jenseitigen Königreich, das keine Erlösung, sondern nur die Apokalypse verheißt, mit einem Traum, einem Alptraum sogar? Nun — nach Nietzsche ist jede Religion, jede Vorstellung von einer anderen als dieser Welt im Traum begründet:
"Im Traum glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Kultur eine zweite reale Welt kennenzulernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlaß zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinlebens, also die Herkunft alles Geisterlebens und wahrscheinlich auch des Götterglaubens. «Der Tote lebt fort, denn er erscheint dem Lebenden im Traum»: so schloß man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch."
(Nietzsche, Werke,1967 u. 1981, Erster Teil, p. 235–236)
Wie Nietzsche geht es Pynchon darum, jegliche metaphysische Vorstellung zu dekonstruieren und ihre mythologischen Grundlagen zu demonstrieren.

Normalerweise erlöst uns das Aufwachen aus einem Alptraum. Prentice hingegen erwacht nicht nur aus einem Alptraum; nach dem Erwachen findet er sich im Alptraum des Zweiten Weltkrieges und der konkreten Bedrohung durch die V2 wieder.

Die Technik, seinen Protagonisten zu Beginn des Romans aus einem Traum erwachen zu lassen, wiederholt Pynchon in Vineland. Hier erwacht Zoyd Wheeler aus einem Traum und sieht sich einer bösartigen, übermächtigen Bedrohung ausgesetzt.

Tarot

Neues Testament und Tarot, also christlichen und heidnischen Aberglauben, vereint Pynchon in den Anspielungen auf das Tarot. Seine Quelle für Tarotzitate ist Arthur Edward Waites Der Bilderschlüssel zum Tarot. Will man diese erste Episode dem Tarot zuordnen, so kommt nur die Karte Nr. 20, "Das Jüngste Gericht," in Frage. Zum einen spielt Pynchon direkt darauf an:
"It is a judgement from which there is no appeal." (4)
Schon vorher vergleicht er die Evakuierten in Pirates Traum mit den ‘Preterite’, den ‘Übergangenen’ der Erlösung, den "second sheep" (9, 3), von denen schon Tyrone Slothrops Vorfahr, der Schweinezüchter William Slothrop im 17. Jahrhundert (ein Ketzer unter den häretischen Puritanern) behauptet hatte, daß es ohne sie in einem dialektischen, auf binären Oppositionen aufgebauten Universums gar keine Auserwählten, keine ‘Elect’ geben könne. Deshalb müsse man auch die ‘Preterite’ als heilig ansehen (Episode 54, p. 866-67, 555). Schließlich ist auch Luzifer ein gefallener Engel, der Teufel die binäre Opposition zu Gott, ohne den jener gar nicht denkbar wäre. Eine klassische Dekonstruktion polarer Gegensätze; und wir alle sind die Schafe, von denen Pynchon spricht.

Für mich ist einer der Schlüsselsätze Pynchons zum Verständnis von Gravity’s Rainbow in der Einleitung zu seinem Kurzgeschichtenband Slow Learner zu finden. Man spricht nicht einfach so über Alpträume, Raketen und Schafe und die Apokalypse, wenn man ein paar Jahre zuvor einen Roman wie Gravity’s Rainbow geschrieben hat.

"(…) der apokalyptische Showdown. (…) Unser aller Alptraum, die Bombe. (…)
Er war 1959 schlimm genug und ist heute ungleich schlimmer, da die Gefahrenpotentiale unaufhörlich angewachsen sind. Weder damals noch heute wurde er im Unbewußten geträumt. Abgesehen von jener Sukzession gemeingefährlicher Irrer, die seit 1945 an der Macht sind eingeschlossen die Macht, etwas dagegen zu unternehmen, hat fast der ganze Rest von uns armseligen Schafen nie etwas anderes empfunden als schlichte, elementare Angst. Wir alle haben auf diese schleichende Eskalation unserer Hilflosigkeit und unseres Schreckens mit den wenigen Mitteln reagiert, die uns zur Verfügung stehen, vom Versuch, nicht darüber nachzudenken, bis zur Flucht in den Wahnsinn. Irgendwo auf diesem Spektrum der Machtlosigkeit befindet sich das Schreiben von Literatur darüber (…)."

(Thomas Pynchon: Vorwort zu Spätzünder , p. 28).
Allen, die das Schweigen unseres Autors zu seinem eigenen Werk bedauern, sei diese (und andere, zu Werken anderer Autoren) Einleitung Pynchons ans Herz gelegt. Was Gravity’s Rainbow angeht, ist damit schon eine ganze Menge darüber gesagt, was ihn zum Schreiben dieses Romans bewogen hat.

Zero - "to try to bring events to Absolute Zero …" (10, 3)

Die Null oder Zero steht in Gravity’s Rainbow scheinbar für den Tod und das Ende aller Dinge. Mit dieser Metapher verbindet Pynchon eine Reihe sehr unterschiedlicher Bereiche. In der ersten Episode bezeichnet der absolute Nullpunkt den Temperaturbereich im physikalischen Universum, in dem kein Austausch zwischen Teilchen mehr stattfindet, also -273,15 Grad Celsius. Dies ist der Zustand der absoluten Negentropie. Es finden keinerlei «events» mehr statt. Andererseits, und hierauf weist Weisenburger hin, spricht auch Pavlov (dessen Forschungen in Gestalt von Ned Pointsman eine wichtige Rolle in Gravity’s Rainbow spielen), in seinen Schriften vom absoluten Nullpunkt:
"In Pavlov’s (…) writings (…) the term assumes a parallel meaning Pynchon will soon reference:
"An unreinforced conditioned reflex without any repetitions…ends in every case in extinction, to an absolute zero" (Lectures 2:121). Here, it signifies an absolute lack of response to external stimuli, thus a psychologically inert condition, the imagined death in Pirate’s dream."

(Weisenburger, p. 16.)
Wir haben es hier somit mit einer dreifachen Notierung der Null zu tun. Die psychologische wie die naturwissenschaftliche Definition können ohne weiteres auf den wirklichen Zustand des Todes übertragen werden: ein Fehlen von Reaktion auf äußere Stimuli.

Schwerkraft versus Fliegen – ‘Incoming mail’ from The Netherlands

Die Schwerkraft, die schon durch den Titel des Romans eine wesentliche Rolle spielt, wird von Pynchon in diesem ersten Kapitel ebenfalls doppelt eingeführt. Pirate Prentice rettet seinem Kameraden Teddy Bloat das Leben, als dieser betrunken und schlafend aus der Galerie stürzt (12, 5). Kurze Zeit später beobachtet er das Herannahen einer V2, die von einer Abschußrampe in den seit dem 10. Mai 1940 besetzten Niederlanden auf London abgefeuert wurde.

Zu der Besetzung des Königreichs der Niederlande ist anzumerken, daß Hitler offenbar nicht wie Wilhelm II. daran dachte, daß ein Krieg auch verloren werden kann. Für ihn galt wohl von vorneherein die faschistische Doktrin, die Sieg oder Niederlage nicht beinhaltet, sondern auf Sieg oder Untergang basiert. Während der letzte deutsche Kaiser seinen Generalstab daran hinderte, unser kleines Nachbarland zu überfallen, um dort ins Exil gehen zu können, dachte Hitler gar nicht daran, den strategischen Vorteil, den die Gewalt über die Niederlande und Belgien bedeutete, nicht wahrzunehmen. Zwar wurde den niederländischen und belgischen Gesandten in Berlin noch am 26. August 1939 zugesichert, daß die Neutralität gewahrt würde, dieses Erklärung war jedoch unter den militärischen Gegebenheiten, den Briten einen möglichen Brückenkopf im Norden den Westwalls nehmen zu müssen, von vorneherein eine Lüge und Täuschung. Noch am Vorabend des Angriffs versicherte der niederländische Regierungschef Hendrik Colijn seinen Landsleuten in einer Rundfunkansprache, daß keine Gefahr bestehe und daß man beruhigt schlafen gehen könne. . . .

Das Verbrechen dieses unprovozierten und nichterklärten Überfalls ist noch heute der Anlaß für Ressentiments und Mißtrauen gegenüber den Deutschen und Deutschland in den Niederlanden. Wir Deutschen sind "die Russen der Holländer," wie es ein unbekannter Niederländer unter Bezug auf unsere eigenen Vorurteile gegenüber dem russischen Volk einmal ausdrückte. Seit der napoleonischen Besetzung hatten die Niederlande keinen Krieg mehr geführt. Zwar war das Verhalten der deutschen Besatzer gegenüber den "arischen" Niederländern weniger barbarisch als erwartet (weniger barbarisch als anderswo in Europa), im Gegensatz zu den Deutschen nahmen die Niederländer allerdings sehr bewußt wahr, was mit den Juden geschah und schließlich waren die Deutschen direkt und alleine für alles Leid und alle Entbehrungen des Alltags verantwortlich, die der Krieg den Menschen brachte.

Pirate Prentice gehört als Fallschirmjäger den legendären ‘Commandos’ (SOE=Special Operations Executive) an, die hinter den deutschen Linien abspringen, Spionage und Sabotage betreiben und insbesondere an den V2 Abschußrampen interessiert sind.

Die Übersetzung des Wortes ‘Fallschirmjäger’ lautet ‘Airborne’: Menschen, die sich den Traum vom Fliegen ein klein wenig erfüllen, der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen und vom Himmel auf die Erde springen.

Die Rakete als zentrale Metapher des Romans

Die phallische Rakete ist zum einen das Zeichen des Versuchs, die Schwerkraft zu überwinden. Der alte Menschheitstraum vom Fliegen zeigte in der V2 und zeigt in den heutigen Interkontinentalraketen und Marschflugkörpern sein häßliches Gesicht, während es den Pionieren des Raketenbaus doch darum ging, zum Mond und (darüber hinaus) zu fliegen. Wernher von Braun wird zugeschrieben, daß er zu Hitler sagte, das man mit der in Peenemünde entwickelten Rakete dereinst zum Mond fliegen könne, worauf dieser geantwortet und seinen Vasallen daran erinnert haben soll, daß er keineswegs zum Mond, sondern nach London wolle.

Die Rakete, deren Flug Prentice im ersten Kapitel beobachtet (wo sie eine V2 war, die London bedrohte), wird metaphorisch in der Zeit eingefroren und spannt einen parabelförmigen Bogen bis zum letzten Kapitel, wo sie eine Interkontinentalrakete ist, die uns alle bedroht.

Andererseits erinnert die Rakete daran, daß alles, was sich von der Erde entfernt, auch wieder zu ihr zurückkehrt (‘what goes up, must come down’), den berühmten 9,81m/sec. unterworfen ist. Transzendenz ist also auf technische Art und Weise nicht zu erreichen. Das gilt für die Romanfigur Weissmann wie für die realen Hippies.

In diesem Sinne versteht die Kritik auch Pynchons Anspielungen auf LSD in seinem Kurzroman The Crying of Lot 49 (CL, 1965) und in Gravity’s Rainbow als Kritik an der ‘Drogenpolitik’ der amerikanischen Gegenkultur.

Es ist jedoch so, daß die von ‘Persönlichkeitsauszehrung’ betroffenen "Helden" Wendell (Mucho) Maas in The Crying of Lot 49 und Tyrone Slothrop in Gravity’s Rainbow im Verlauf des jeweiligen Romans nicht sehr darunter zu leiden scheinen, daß sie ihr Ego verlieren, während sie beide vorher unter ihrem Ego ziemlich zu leiden hatten.

Insofern nimmt Pynchon die Gegenkultur zwar nicht von seiner ironischen Kritik aus, eine einseitige Verherrlichung des Egos sowie des klar denkenden Verstandes bedeutet seine Position jedoch auch nicht. Er scheint die Hippies eher zu belächeln, weil sie glaubten, die kapitalistische Weltverschwörung mit ihrer sanften Revolution bekämpfen zu können.
Darüberhinaus präsentiert Pynchon den Haschischkonsum durchaus positiv und räumt ein, Kontakte zur Drogenszene gehabt zu haben (siehe das Vorwort zu dem Kurzgeschichtenband Slow Learner), wenn man seine Beschreibungen der in seinen Romanen auftauchenden Kiffer betrachtet. So betäubt der Russe Tchitcherine zwar Slothrop mit der Wahrheitsdroge Sodium Amytal, um ihn zu verhören (36;383). Von den sechs Kilo Haschisch offensichtlich guter Qualität, die dieser für ‘Seaman’ Bodine besorgen sollte, schneidet er aber nur eine Scheibe, "a slice of Hashish," also knapp ein Kilo ab, wie sich auch sein Fahrer Dzabajew beschwert, aber:

"‘I only took what his freedom is worth to him,’
explains Tchitcherine. ‘Where’s that pipe, now?’"
( Episode 38; 609, 390)
Aber zurück zum ersten Kapitel und zur Rakete. In dieser ersten Episode wird vor allem ein Aspekt betont, und zwar die ‘reversed order’, die zeitliche Umkehrung von Explosions- und Fluggeräusch der Rakete (7) infolge der dreifachen Schallgeschwindigkeit, mit der die Terrorwaffe auf Städte wie London, Antwerpen und Paris abgefeuert wurde. Diese Diskussion wird in der vierten und der achten Episode wieder aufgenommen.

Zu dem Begriff ‘Incoming mail’ (6), der hier auch eine Doppelbedeutung hat, mehr in Episode 2.

Das kosmische Netz

Das kosmische Netz, in das alle Zusammenhänge eingebunden sind, wird an anderer Stelle ausgiebiger besprochen. Hier sei nur angemerkt, daß die einheitliche Feldtheorie, als Metapher gebraucht, so unterschiedliche Ideen wie die Relativitätstheorie und Quantenmechanik mit der moderner Sprachtheorie einerseits und buddhistischen Glaubensvorstellungen oder auch der Psychologie (Paranoia) andererseits vereint und das Pynchon ihr mißtraut, auch wenn oder gerade weil Gravity’s Rainbow dieser Metapher gemäß aufgebaut zu sein scheint. Die Vorstellung eines allgegenwärtigen kosmischen Netzes ist eben kaum weniger beruhigend als die Idee eines allmächtigen Gottes oder einer allwissenden politischen Organisation (wie in Einheitsparteien oder Geheimdiensten), weil der Grad der individuellen Freiheit stets gegen Null geht.
N. Katherine Hayles zeigt auf, daß der Text und damit Pynchon uns daran erinnern will, daß unsere Worte nicht die Wirklichkeit sind, für die sie stehen, sondern sprachliche Konstrukte, kognitive und nicht wirkliche Strukturen:
"The text’s unruliness makes the reader acutely aware that patterns are not merely perceived but constructed, thereby alerting us (or reminding us) that as we read, we are building a cognitive structure. At the same time, the unruliness insures that this cognitive structure cannot be complete or perfect. For all it’s frustration for the reader, the unruliness offers a way out of the central danger of authoritarian control and life–denying organization."
(Hayles, p. 169)
Ein System, dem wir alle, Leser und Autoren, nicht entkommen können, ist die Sprache, sonst müßten wir unsere Vorhaben, das Schreiben oder Lesen eines Buches, gleich wieder aufgeben. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß die patriarchalische, auf dem hierarchischen System der binären Opposition von Signifikat und Signifikant beruhende Sprache, derer sich auch Pynchon bedienen muß, zwar ein Instrument der Herrschenden ist, der Text jedoch gleichzeitig auch darauf verweist, daß dieses Herrschaftssystem eben wegen seiner hierarchischen Doppelstruktur nicht perfekt ist, auch wenn die Herrschenden dies behaupten mögen. Pynchon, der das Vorwort zu Penguin Books’ Millenium Edition von 1984 (2003) geschrieben hat, folgt und erneuert hier die Warnung Orwells vor dem möglichen Mißbrauch der Sprache. Daß 1984 ein Schlüsseltext für Gravity’s Rainbow ist, ist für mich unstrittig.

Andere Strukturmerkmale, die Pynchon schon in der ersten Episode metaphorisch einführt, sind das kosmische Netz molekularer "rings and chains in nets only God can tell the meshes of" sowie die "spiral ladder/corkscrew ladder" (16, 6-7), die die Figur der Doppelhelix mit ihren komplementären Basen als Grundlage der DNS-Struktur ins Gedächtnis ruft. Die Spirale oder der Wirbel sind jedoch noch in anderer Hinsicht bedeutsam für den Gesamtzusammenhang von Gravity’s Rainbow. Jede Vortex enthält einen eliotschen "still point," das ‘Zentrum des Zyklons,’ in dem eine Ruhe herrscht, die Einfluß auf das Bewußtsein eine Menschen nehmen kann, so daß dieses ‘erweitert,’ vielleicht aber auch nur in seinem ‘Wahrnehmungsbereich’ (ein anderer Abschnitt auf der Skala möglicher Wahrnehmung, der ‘Montagepunkt,’ von dem Carlos Castaneda spricht) verändert oder auch das Unterbewußtsein angesprochen wird. Nicht nur die Sufis, die Derwische, verwenden diese Technik in ihren Tänzen. John C. Lilly, ‘Tank’–Experte, Delphin– und LSD–Forscher, schreibt 1972 über diesen Punkt:

"(…) jener aufsteigende ruhige und spannungsfreie Ort, an dem man lernen kann, wie man ewig lebt. Überall außerhalb dieses Zentrums tobt der Sturm des eigenen Ego, das mit anderen Egos wetteifert im Rundtanz wütender Raserei. Verläßt man das Zentrum, so wird man vom Heulen des Sturmes um so heftiger betäubt, je mehr man bei diesem Tanz mitmacht."
(Lilly, p. 5)
Prentice kann diesen Punkt erreichen, er ‘pfeift nicht, wenn er pißt’ (Shea/Wilson), sondern tut dies "without a thought in his head" (6). Zu seiner militärischen Spezialausbildung gehörten auch Meditationstechniken, die ihn befähigen, seinen Kopf von allen störenden Gedanken des Egos zu befreien (7).

Literatur

Walter Dornberger: Peenemünde – Die Geschichte der V–Waffen, Ullstein, München, 2000.

Rainer Eisfeld: Mondsüchtig – Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Rowohlt, Hamburg 1996.

Douglas Fowler: A Reader’s Guide to "Gravity’s Rainbow", Ann Arbor, Michigan, 1980.

N. Katherine Hayles: The Cosmic Web – Scientific Field Models and Literary Strategies in the Twentieth Century, Cornell University Press, Ithaca and London 1984.

David Lodge: The Art of Fiction – Illustrated from Classic and Modern Texts, Penguin, London 1992.

John C. Lilly: Das Zentrum des Zyklons – Eine Reise in die Inneren Räume, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1976.

David Lodge: Die Kunst des Erzählens – Illustriert anhand von Beispielen aus klassischen und modernen Texten, Diana Verlag, München und Zürich 1998.

Friedrich Nietzsche: Werke, – 1967, 1981, Carl Hanser Verlag, München, Wien, Zweitausendeins, Frankfurt o.J. Nachdruck der zweibändigen Ausgabe der Hanser Bibliothek.

George Orwell: 1984, – Centennial Edition, Plume, London 2003.

Thomas Pynchon: Spätzünder – Frühe Erzählungen, Rowohlt, Reinbek 1985/1994.

Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, Die Sonette an Orpheus, Suhrkamp, Ffm. 1996.

Robert Shea, Robert Anton Wilson: Illuminatus! – Bd. 1–3 New York 1975, Bd. 1: Das Auge in der Pyramide, Basel 1977, Bd. 2: Der goldene Apfel, Basel 1978, Bd. 3: Leviathan, Basel 1978.

Arthur Edward Waite: Der Bilderschlüssel zum Tarot, Urania Verlag, Neuhausen 1978.

Steven Weisenburger: A "Gravity’s Rainbow" Companion – Sources and Contexts for Pynchon’s Novel, The University of Georgia Press, Athens & London 1988.

Links

V2-Waffen-Terror — "Vor 60 Jahren: Luftangriff auf Peenemünde. Speer verlegt V-2-Produktion unter Tage und läßt das KZ »Dora« bauen." Von Dietrich Eichholtz, Junge Welt, 16.08.2003.

Peenemünde und von Braun — zur Geschichte der V2.

Buchliste — Peenemünde, A4 (V2) und Geheimwaffen.

Peenemünde und die "Wunderwaffe" V2 — Linksammlung des Mitteldeutschen Rundfunks MDR.

V2Rakete.de — umfangreiche Webseite zur V2.

V2Rocket.com — eine ebensolche in englischer Sprache.

Peenemünde — touristische Informationsseite mit einigen aktuellen Fotos.

Episode 73Episode 2

I Beyond the Zero II Un Perm’ au Casino Hermann Goering III In the Zone IV The Counterforce

Index Hauptseite Vorwort Die Parabel Michael D. Bell-Summary Biographie Dekonstruktion Richard Fariña Robert Frost Galerie Literatur Luddism Mason & Dixon Monographien u. Aufsätze Muster — Patterns Schweine Slow Learner Soccer Sterblichkeit und Erbarmen in Wien Proverbs for Paranoids Vineland Weblinks Weiterführende Literatur Wernher von Braun Fay Wray The Wizard of Oz The Zero

Professor Irwin Corey Accepts the National Book Award for Thomas Pynchon
Charles Hollander: Pynchon’s Inferno
Douglas Kløvedal Lannark: Paperware to Vaporware, The Nativity of Tyrone Slothrop
Douglas Kløvedal Lannark: Mason & Dixon: Astrological Review
Homepage Seitenanfang/page up

© Otto Sell – Tuesday, September 26, 2000
Last update Thursday, December 24, 2009

GOWEBCounter by INLINE
created with Arachnophilia