Gravity’s Rainbow Episode 2 (16-30) (7-16)

Etwas später am gleichen Morgen am gleichen Ort. Prentice bereitet sein Banana Breakfast zu, für das er weithin bekannt ist. Incoming Mail, Pirate’s Talent: Mong, der Adenoid, Kokainmißbrauch.


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Have a Banana

Das Banana Breakfast

Die Bananenplantage auf dem Dach des von Prentice bewohnten Quartiers, die nur in den ersten beiden Episoden des Romans erwähnt wird, verweist auf die binären Oppositionen Norden versus Süden, Tod (linear, Anfang und Ende) versus Leben (strukturell unendlich, zyklisch), Winter versus Sommer:

“Now there grows among all the rooms, replacing the night’s old smoke, alcohol and sweat, the fragile, musaceous odor of Breakfast: flowery, permeating, surprising, more than the color of winter sunlight, taking over not so much through any brute pungency or volume as by the high intricacy to the weaving of it’s molecules, (…) though it is not often Death is told so clearly to fuck off.” (10)

„Nun breitet sich durch alle Räume der zarte Bananenduft des Frühstücks aus, verdrängt den kalten Rauch, den Schweiß- und Alkoholgeruch der vergangenen Nacht: blumig, alles durchdringend, überraschend, mehr als die Farbe winterlichen Sonnenlichts, überwältigend nicht durch Schärfe oder Intensität, sondern durch die Raffinesse des Molekülgewebes, teilhaftig der Geheimnisse des alten Zauberers, durch die – selbst wenn dem Tod nur seltener geraten wird, sich zu verpissen – die lebendigen Ketten der Gene sich als labyrinthisch genug erweisen, ein menschliches Gesicht zehn oder zwanzig Lebensalter weit zu bewahren … es ist die gleiche Selbstbehauptungs-Struktur, die den Bananenduft dieses Kriegsmorgens befähigt, durch die Luft zu mäandrieren, die zurückzuerobern und zu beherrschen. Gibt es irgendeinen Grund, jetzt nicht alle Fenster aufzureißen und das freundliche Aroma ganz Chelsea zudecken zu lassen? Als Zauberbann, zum Schutz vor fallenden Objekten …” (20)

Gerüche spielen bei Pynchon stets eine besondere Rolle und man muß als Leser stets wach werden, wenn er einen speziellen Geruch beschreibt. Eine olfaktorische Wahrnehmung ist immer sehr direkt, verglichen etwa mit der Optik des Auges, wo das Bild, das wir sehen, erst im Gehirn zusammengesetzt wird. Die Botenstoffe gelangen direkt in das limbische System, das Reptilien– oder Riechhirn (!) und können mitunter uralte, vergessene kollektive und rassische Erinnerungen auslösen, die Informationen liefern, die unbeeinflußt vom rationalen Verstand sind und mitunter hormonelle Reaktionen auslösen, die später kaum nachzuvollziehen sind (vgl. Ernest Pudding, Imipolex G).

Man beachte, daß die Szene im winterlichen London spielt. Norden, Winter und Tod werden bei Pynchon symbolisch gleichgesetzt. Dem steht die Bananenplantage als lebendiges Symbol der fortwährenden Erneuerung des Lebens in den Tropen mit ihrem immerwährenden Sommer gegenüber. Gleichzeitig werden hier das zyklische Weltbild unserer Vorfahren und das lineare Weltbild, das sich seit der Aufklärung durchgesetzt hat, gegeneinander gesetzt. Die Botschaft ist klar: es ist das lineare Weltbild des Norden, das in einem unumkehrbaren, ‘Ordnung’ schaffenden Prozeß dabei ist, die uralten entropischen zyklischen Formen der ewigen Erneuerung zu unterbrechen und damit zu vernichten.

“Time to gather your arse up off the floor,
(have a bana–na)
Brush your teeth and go toddling off to war. Wave your hand to sleepy land,
Kiss those dreams away,
Tell Miss Grable you’re not able,
Not till V–E Day, oh,
Ev’rything’ll be grand in Civvie Street
(have a bana–na)
Bubbly wine and girls wiv lips so sweet—
But there’s still the German or two to fight,
So show us a smile that’s shiny bright,
And then, as we may have suggested once before—
Gather yer blooming arse up off the floor!”
(8-9)

Incoming mail (6, 14)

Pynchon hatte es schon in The Crying of Lot 49 ausgiebig mit der Post und mitunter recht ungewöhnlichen Wegen ihrer Verteilung.
In der ersten Episode (6) entstammt die Anspielung der von Pynchon gern verwendeten knappen und oftmals von schwarzem Humor und Ironie gekennzeichneten Soldatensprache, die ein feindliches Geschoß als ‘incoming mail’ bezeichnet.
Ein besonders prägnantes Beispiel ist hierfür das SNAFU-Prinzip,
‘Situation Normal, All Fucked Up’
in der 36. Episode, das treffend den Kriegsalltag und vielleicht nicht nur diesen beschreibt (siehe hierzu auch die Pynchon-Epigonen Robert Shea und R.A. Wilson, Illuminatus! Snafu aber ist nicht nur die treffende und korrekte Beschreibung jeglichen Kriegsalltages, es ist zudem noch ein Akronym und nimmt als solches ironisch die Angewohnheit der militärischen Verwaltung aufs Korn, alle Vorgänge innerhalb der Truppe durch Codierung (die massive Verwendung von Akronymen) möglichst reibungslos zu gestalten – ein vergeblicher Versuch, natürlichen Entropieprozessen zu begegnen, weil die große Anzahl der Abkürzungen letztlich selbst zur Entropie beiträgt.
Statistiken zufolge geht im Kriege, wen wundert’s, achtzig Prozent der militärischen Planung schief, und der Kollateralschaden nicht wie behauptet die Ausnahme, sondern die Regel.

Hier in der zweiten Episode wandelt Pynchon ironisch den übertragenen Sinn in einen wortwörtlichen (und spielt zu gleicher Zeit auf The Crying of Lot 49 an), wenn wir erfahren, daß Katje Borgesius auf diesem Wege ihre Bitte an Pirate übermittelt hat, nach England geholt zu werden:

“It came over in a rather delightful way (…) none of my friends are that clever. All my mail arrives by post.” (11)
wie Pirates Chef maliziös feststellt. Im Gegensatz zu seinem Untergebenen Prentice bekommt er seine Post nicht exklusiv mit einer V2 zugestellt.

Die Nachricht wartet auf Prentice, wie wir weiter erfahren, in Greenwich, am Nullmeridian, wo die V2, die er am morgen gesehen hatte, heruntergekommen ist. Das verwundert nicht, denn sein Talent, in die Phantasien anderer Wesen eindringen zu können, weisen ihn als Grenzgänger zwischen den Welten aus, der die “daytime analysis of content” (13) hinter sich gelassen hat, weil er im Sinne von William James weiß und für die singulären Punkte, die «crossover–points» (14), die Kreuzungspunkte zwischen den Universen, sensibel ist.

Der Nullmeridian und die Versendung von Post an diesen Ort haben es Pynchon offensichtlich angetan. Ziemlich zu Anfang von Mason & Dixon stehen die Briefe, die beide einander vor ihrem ersten Treffen geschrieben haben. Dixons Brief an Mason, den Assistenten des königlichen Astronomen, ist an dessen Arbeitsplatz, das Observatorium in Greenwich, Null Grad, Null Minuten, Null Bogensekunden, adressiert.


Pirates Talent

Gleichzeitig führt Pynchon an dieser Stelle den nächsten esoterischen Diskurs, das chinesische Schafgarbenstengel– oder Münzorakel I Ging ein, das an verschiedenen anderen Stellen im Roman nochmals auftaucht (13; 121, 36; 378, 73;746) und spielt auf Hermann Hesse (Das Glasperlenspiel) an. Aber wie mit dem Tarot und (später) mit der Astrologie treibt Pynchon auch hier seinen Spott mit den Adepten der fernöstlichen oder mittelalterlichen Esoterik, die zum gängigen Hippie-Hasch Brauchtum der sechziger und siebziger Jahre gehörte und bis heute gehört.
“The scenes are highlights from Pirate’s career as a fantasist–surrogate, and go back to when he was carrying, everywhere he went, the mark of Youthful Folly growing in an unmistakable Mongoloid point, right out of the middle of his head. This wasn’t through any rigorous daytime analysis of content, but just because he knew.” (13)
‘the mark of Youthful Folly’ bezieht sich auf das Zeichen Nr. 4 aus dem I Ging, Mong – die Jugendtorheit, ein Spruch, der sich auf die binäre Opposition von Lehrer und Schüler bezieht:

Mong – die Jugendtorheit

Jugendtorheit hat Gelingen.
Nicht ich suche den jungen Toren,
der junge Tor sucht mich.
Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft.
Fragt er zwei-, dreimal, so ist es Belästigung.
Wenn er belästigt, so gebe ich keine Auskunft.
Fördernd ist Beharrlichkeit.

(I Ging, p. 39-40)

Mong

Ein Beispiel für Pirates Talent, in die Träume und Phantasien Anderer eindringen zu können, ist der gigantische Nasenpolyp, der London bedroht. Weisenburger meint, daß Pynchon hier die nasale Aussprache der britischen ‘Upper Class’ aufs Korn nimmt,

“at least he satirizes how that speech sounds to preterite ears.” (p. 22)
Pirate kann aufgrund seiner Begabung mit dem Polypen in Verbindung treten. Daß die Kreatur sich wie eine Schnecke fortbewegt, ist nur nochmals ein Hinweis auf die Spirale, die in Gravity’s Rainbow ein Grundmuster ist. Interessanter ist der Punkt, an dem Pirate das Wesen trifft. Dieser Punkt ist ein Nullpunkt, eine Singularität, in der alle binären Oppositionen zusammenfallen. Gleichzeitig ist ein solcher Punkt, und in Gravity’s Rainbow gibt es einige Anspielungen hierauf, ein Übergang zwischen den Welten, so daß alles unmögliche möglich wird. Pynchon macht deutlich, daß niemand sich dem Eindruck einer solchen Erfahrung entziehen kann:
“Pirate approached the thing. It began to slide forward to meet him, over the cobblestones slow as a snail, leaving behind some slime brightness os streetwake that could not have been from fog. In the space between them was a crossover point, which Pirate, being a bit faster, reached first. He reeled back, in horror, back past the point–but such recognitions are not reversible.” (14)
Pirates Vorgesetzte hoffen, das Wesen kontrollieren zu können und lassen schließlich tonnenweise “the new wonderdrug cocaine” (16) hineinschaufeln. Was Kokain mit der Nase und mit Freud, der hysterische Oberschichtpatienten damit behandelte, zu tun hat, ist wohl klar. Freud sah lediglich die antidepressive Wirkung des Kokains und vernachlässigte völlig die desaströsen sozialen Folgen der Droge. Dementsprechend wählt der Polyp seine Opfer auch nicht zufällig aus, sondern beschränkt sich auf die ‘Elect’, im Gegensatz beispielsweise zur V2, die wahllos Opfer auch in der britischen Unterschicht, den ‘Preterite’, fordert:
“(…) not swallowing up his victims at random, no, the fiendish Adenoid has a master plan, it’s choosing only certain personalities useful to it-there is a new election, a new preterition abroad in England here that throws the Home Office into hysterical and painful episodes of indecision…” (15)

Literatur

I Ging – Texte und Materialien, Eugen Diederichs Verlag 1973.

Links

Max P. Häring — der Rachenpolyp von St. James.

Episode 1Episode 3

I Beyond the Zero II Un Perm’ au Casino Hermann Goering III In the Zone IV The Counterforce

Index Hauptseite Vorwort Die Parabel Michael D. Bell-Summary Biographie Dekonstruktion Richard Fariña Robert Frost Galerie Literatur Luddism Mason & Dixon Monographien u. Aufsätze Muster — Patterns Schweine Slow Learner Soccer Sterblichkeit und Erbarmen in Wien Proverbs for Paranoids Vineland Weblinks Weiterführende Literatur Wernher von Braun Fay Wray The Wizard of Oz The Zero

Professor Irwin Corey Accepts the National Book Award for Thomas Pynchon
Charles Hollander: Pynchon’s Inferno
Douglas Kløvedal Lannark: Paperware to Vaporware, The Nativity of Tyrone Slothrop
Douglas Kløvedal Lannark: Mason & Dixon: Astrological Review
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© Otto Sell – Monday, June 26, 2000
Last update Thursday, December 24, 2009

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