Arkadi und Boris Strugatzki

Material

Stanislaw Lem: Nachwort zu Picknick am Wegesrand,
Suhrkamp, Frankfurt/M 1981, pp. 189–215.

Franz Rottensteiner: Polaris 10 – Ein SF Almanach A. und B. Strugatzki gewidmet,
Suhrkamp, Frankfurt/M 1986:

– Franz Rottensteiner: Vorwort zu Polaris 10 (pp. 7–13.)

Franz Rottensteiner: Quarber Merkur 93/94 – Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik, ISBN 3-932621-47-6, Passau 2001. Bestellung über EDFC-Homepage: www.edfc.de
Diese Doppelnummer enthält einen umfangreichen Sonderteil über das Werk der Gebrüder Strugazki:

– Erik Simon: Das Strugazki-Politikum (pp. 9-38)
– Mark Amusin: Die Strugazkis und die Phantastik der Texte (pp. 39-52)
– Oleg Sestopalov: Dreißig Jahre danach (pp. 53-66)
– Ivo Gloss, Hans-Peter Neumann, Erik Simon: Arkadi und Boris Strugazki im deutschen Sprachraum. Eine Bibliographie (pp. 67-106)

Istvan Csicsery–Ronay jr.: "Das letzte Märchen: Picknick am Wegesrand und das Märchenparadigma in der Science–fiction der Strugatzkis," in: Polaris 10 Ein SF Almanach A. und B. Strugatzki gewidmet, Suhrkamp Frankfurt/M 1986, pp. 112–152.

Darko Suvin: Nachwort zu Die Schnecke am Hang, Suhrkamp, Phantastische Bibliothek Bd. 13, Frankfurt 1978, pp. 255-277. Mit einer umfassenden Bibliographie zu den bislang erschienenen Romanen und Erzählungen.


Das letzte Märchen

ist ein ganz hervorragender Aufsatz, aus dem ich im folgenden sicherlich länger zitieren muß, der einen Überblick über das Hauptwerk und die Hauptthematik der Strugatzkis gibt sowie eine Analyse von Picknick am Wegesrand enthält.

Bevor Suvin sich zu Die Schnecke am Hang (pp. 267–277) äußert, liefert er im ersten Teil des Nachworts eine Werkgeschichte zur bis dahin (1978) erschienenen Literatur der Strugatzkis, die er in drei oder vier Phasen oder Zyklen einteilt. Man darf die Phasen jedoch nicht zu eindeutig sehen, die Übergänge sind durchaus fließend, eher überleitend als abgrenzend. Die Benennung der Phasen habe ich zur ungefähren Orientierung hinzugefügt.

The Future is Red

Phase 1 (1959–1962): Heimkehr: Mittag, 22. Jahrhundert

Suvin nennt diesen ersten Zyklus, der die Romane Atomvulkan Golkonda (Moskau 1959, Berlin, 1961, zuletzt Heyne SF Nr. 3377, München 1974), Der Weg nach Amaltheia (Moskau 1960), Praktikanten (Moskau 1962, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1994) sowie eine Reihe von Kurzgeschichten, u. a. in Heimkehr: Mittag, 22. Jahrhundert (Moskau 1962, überarbeitet 1967, Das Neue Berlin, Berlin 1977, Droemer–Knaur, München o.J.) umfaßt, die idyllisch–idealistische Phase der Strugatzkis.

Zeitlich erstrecken sich die Geschichten vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zum 22. Jahrhundert. Mit wiederkehrendem Personal schildern die Strugatzkis die Erforschung des Alls aus kommunistischer Sicht. Sie erzählen

"in realistischer Manier das Leben auf einer vorwiegend kommunistischen (klassenlosen) Erde und zwischenmenschliche Beziehungen bei der Erforschung der Planeten des Sonnensystems und einiger naher Sterne. (…) Jefremows monolithische Führerfiguren und Riesenvorhaben sind bei den Strugatzkis durch junge Forscher und Wissenschaftler ersetzt, die in ihren alltäglichen Pionieraufgaben romantische Erfüllung finden." (Suvin, p. 258).
Ausgangspunkt der SF der Strugatzkis ist also ein idealistischer Kommunismus, die Utopie einer klassenlosen geeinten Welt, in der die sozialen Konflikte des 20. Jahrhunderts sowie die Probleme der 3. Welt gelöst sind, so daß sich die von Zwang und Ausbeutung befreiten, aufgeklärten, mündigen und gut ausgebildeten Menschen des 22. Jahrhunderts freudig und hochmotiviert in die Erforschung unserer näheren kosmischen Umgebung sowie der letzten Geheimnisse der Naturwissenschaft stürzen.
Für die Strugatzkis ist Science Fiction laut Suvin die Literatur,
"die sich mit der Ethik und Verantwortung des Wissenschaftlers befaßt (…)."
(p. 275)
Historisch und politisch hat der Kommunismus gesiegt. Der Klassengegensatz, die binäre Opposition von Kapitalismus und Kommunismus, ist überwunden, so daß die Menschheit ihre Kapazitäten für die Errichtung einer besseren Welt sowie für die Erforschung des Alls nutzen kann. Folglich spielen sich die Auseinandersetzungen nicht zwischen Gut und Böse, sondern
"zwischen den ‘Guten und den Besseren’ ab, (…) d.h. innerhalb eines absoluten und allgemeingültigen ethischen Systems. Was an grundlegenden Konflikten verbleibt, ist daher allein das epische Abenteuer des Menschen, der der Natur als ‘kollektiver Robinson’ (Kagarlizki) gegenübersteht und sie erobert." (Suvin, p. 258–59).
Überleitend zur nächsten Phase tauchen Zweifel an diesem Goldenen Zeitalter in einigen Erzählungen gegen Ende des Zyklus auf. Die aus dem Kosmos zurückkehrenden Raumfahrer sehen sich ihre Heimatwelt an, die eine andere geworden ist, seit sie ins All aufgebrochen sind und werden mit Entwicklungen konfrontiert, die sie nicht gutheißen können. Zudem haben sie zu viele Klassengesellschaften auf noch nicht so weit entwickelten Welten der Lokalen Blase gesehen und stehen vor dem Dilemma, durch ihr Eingreifen Unrecht zu verhindern, damit aber in die natürliche Entwicklung einzugreifen oder aber den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich auf die Beobachtung zu beschränken. Aber auch hier sind die wirklich Bösen nicht wirklich böse, sondern, wie der Titel einer ins Englische übersetzten Kurzgeschichte lautet, lediglich "Poor, Cruel Folk," das eigentlich nichts dafür kann.

The Future is Red

Phase 2 (1962–1965): Der wahre Feind befindet sich in der Brust eines jeden Menschen

Daß mit der technologischen Entwicklung auch große Gefahren für Mensch und Umwelt einhergehen, Ausbeutung und Sklaverei nicht nur in feudalen, sondern in Form von totaler Kontrolle auch in hochtechnologischen Gesellschaften vorkommt und die Zukunft nicht zwangsläufig in ein Paradies mündet, ist logisch und folgerichtig das Thema dieser Phase. Die
„Dialektik von Unschuld und Erfahrung, von utopischer Ethik und historischen Hindernissen auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung liefert von nun an die hauptsächliche Spannung und das Pathos im Werk der Strugatzkis.” (Suvin, p. 259).
Csicsery–Ronay jr. nennt dieses Dilemma die
„Degeneration des frommen Wunsches – d.h. die Möglichkeit, daß die Menschheit vielleicht nicht fähig ist, Utopia zu erreichen, und zwar infolge ihrer eigenen Unfähigkeit, sich das Beste zu wünschen” (p. 116).
Fluchtversuch (Moskau 1962, Volk und Welt, Berlin 1976, Suhrkamp, Frankfurt 1983) wird allgemein als Vorstudie zu Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein (Moskau 1964, Marion von Schröder, Hamburg u. Düsseldorf 1971, Heyne, München 1973, Nr. 3318) angesehen. Der Roman enthält die herrlichen Knüttelverse (Limericks) des strukturellen Linguisten, eine Idee, die später in Pynchons Gravity’s Rainbow in Form der “Rocket–Limericks” Eingang fand.

Einem Insassen eines Nazi–KZs, der von Mitgefangenen als Offizier der Roten Armee denunziert worden ist, gelingt es irgendwie, in die gut eingerichtete Welt des 22. Jahrhunderts zu flüchten, wo er einige der fröhlich forschenden Sowjetmenschen dazu überredet, einen Planeten zu besuchen, den eine feudalistische Gesellschaft zur Gänze in ein KZ verwandelt hat, dabei seine Nachfahren (als indirekte Nutznießer des Opfers, das er im 2. Weltkrieg für sie gebracht hat) an ihre Vergangenheit erinnert und davor warnt, daß sich utopische Verhältnisse nicht einfach aufgrund der Marxschen These vom Ablauf der Geschichte einstellen werden, sondern einer historischen Entwicklung unterworfen sind, in der es reale Auseinandersetzungen um die Macht und den richtigen Weg gibt, die ausgefochten werden müssen, um Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Hieraus ergibt sich seit Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein ein weiteres Prinzip (nach den Robotergesetzen von Asimov), das die Science Fiction für die Menschheit verbindlich eingeführt hat — die ‘Große Direktive.’ Sollte dereinst die (allerdings) höchst unwahrscheinliche Situation eintreten, daß die Menschheit vor der Frage steht, kosmische Entwicklungshilfe zu leisten oder den Dingen ihren Lauf zu lassen, müßte das Thema neu diskutiert werden. Mir kommt unsere Rasse allerdings eher wie ein potentieller Empfänger einer kosmischen Entwicklungshilfe vor und die ‘Große Direktive’ der Nichteinmischung in örtliche Verhältnisse, wie dieses Prinzip im amerikanischen Star Trek–Universum heißt, könnte dann der Grund dafür sein, warum die Aliens vielleicht nicht landen, sondern uns nur beobachten.

Das Dilemma ist hier ähnlich, wenngleich einfacher gestrickt als bei den Strugatzkis. Die Kapitäne Kirk, Picard oder Janeway geraten in verschiedenen Episoden immer wieder in Situationen, die es erfordern, die ‘Große Direktive’ großzügiger auszulegen, um Klingonen, Ferengi oder Romulaner davon abzuhalten, ‘primitivere’ Welten zu unterdrücken oder auszubeuten. Für Suvin ist Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein, unter diesem Aspekt – allerdings nicht sehr erfolgreich – verfilmt, ein Erziehungsroman,

„bei dem der Leser der Held ist, der zusammen mit dem Protagonisten die Natur des schmerzhaften Konfliktes zwischen utopischen menschlichen Werten – für die Strugatzkis immer der ruhende Polarstern – und dem schrecklichen empirischen Druck von Massenegoismus und dem Ausgeliefertsein an Konformismus und kleinliche Leidenschaften erfährt. Unter einem solchen Druck verfällt die Mehrzahl der Menschen in religiösen Fanatismus, begeht Massenmorde oder stumpft völlig ab. (…) Die Einmischung von außen kann ein Volk nicht befreien, ohne zur Entstehung einer neuen aufgeklärten Diktatur zu führen; die ‘Götter’ von der Erde sind sowohl ethisch zum Handeln verpflichtet, wie historisch zur Untätigkeit verurteilt” (Suvin, p. 261–262).
Präziser kann man das Dilemma nicht beschreiben. Suvin vergleicht die späteren, vor sozialen Fehlentwicklungen warnenden Romane der Strugatzkis mit den Werken von Wells, Dick und LeGuin. Er nennt zwar keine Titel, aber ich kann mir gut vorstellen, worauf er anspielt.

Bei Wells ist natürlich Die Zeitmaschine gemeint, im Falle von Ursula LeGuin denke ich etwa an Planet der Habenichtse, (original: The Dispossessed, 1974). Aber auch LeGuins andere Werke sind von einem tiefen Humanismus geprägt, bei dem entsprechend der Zeit, den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die Sorge um den gesellschaftlichen und technischen Fortschritt der Menschheit auch noch mit der beginnenden Umweltdiskussion verknüpft ist.

Bei Philip K. Dick ist das gesamte Werk von einer kafkaesken Paranoia vor einer Zukunft bestimmt, in der die Menschen ohnmächtige Spielbälle von Autoritäten werden, die den ursprünglichen Impuls der Aufklärung umgedreht haben und den technologischen Fortschritt zur Unterdrückung nutzen.

Nach Suvins Ansicht gehen die Strugatzkis mit Die gierigen Dinge des Jahrhunderts (Moskau 1965, Volk und Welt, Berlin 1981, Suhrkamp, Frankfurt 1982, englische Übersetzung bei https://www-win.rusf.ru/abs/english/e-books.htm) zurück ins „antizipatorische Universum des ersten Zyklus” (p. 263). Der Roman ist ihm zu wenig konkret. Er scheint mit dieser Meinung den sowjetischen Kritikern zu folgen, die er nicht näher benennt.

Ich finde jedoch die Frage, was aus den kapitalistischen Staaten im 22. Jahrhundert im sozialistischen Wohlfahrtsstaat geworden sind, einerseits durchaus angemessen, wenn man ein sich über eine größere Anzahl von Texten erstreckendes Zukunftsmodell entwirft. Andererseits denke ich, daß die Strugatzkis bei der Bestimmung gar nicht so genau vorgehen mußten und wollten, da sich die Probleme auf alle zukünftigen Wohlfahrtsgesellschaften übertragen lassen. Es macht gerade den Reiz ihrer Romane für mich aus, daß sie jenseits jeglicher Ideologie und simpler Sozialkritik stehen. Daß der Roman, wie Suvin findet, „für ein parabolisches Modell eines Wohlfahrtsstaates zu wenig allgemeingültig ist” (p. 263), kann ich nicht teilen. Wir haben wie die Russen massive Alkohol, Drogen und Abstumpfungsprobleme, egal von welchem Standpunkt dies bewertet wird oder wie man zu den unterschiedlichen Strategien der Bewältigung steht. Zudem ist dem Roman ein Zitat von Antoine de Saint Exupery vorangestellt, das, wie ich finde, eindeutig belegt, daß die Strugatzkis bei ihren Überlegungen zur Zukunft den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben und nicht nur die Sowjetgesellschaft gemeint haben.

Es gibt nur ein Problem in der Welt, ein einziges Problem —
den Menschen geistigen Inhalt wiederzugeben, geistige Sorgen …
Auch Csicsery–Ronay jr. spricht lediglich von einem Utopia, wenn er darlegt, wie die Strugatzkis in ihren Werken das Märchenparadigma, eines Unterschemas des allgemeinen Heldenschemas in der Literatur, anwenden und angesichts der herrschenden Verhältnisse zunehmend dekonstruieren. Csicsery–Ronay jr. geht von der These aus, daß die Strugatzkis ihr Zukunftsmodell entsprechend der Vorstellung entworfen haben, daß die Zukunft unser aller Märchen ist, von dem wir hoffen, daß es gut ausgeht. Märchen gehen doch immer gut aus, oder?

Das Märchenschema verlangt andererseits vom Helden ein gewisses Wohlverhalten, sonst ist das Happy–End nicht gewährleistet. Was ist, wenn wir alle gegen diesen Codex verstoßen? Darf man Unschuldige bombardieren, um einen diktatorischen Aggressor zu bestrafen? Die in den reiferen Romanen der Strugatzkis aufgeworfenen Fragen bleiben von einer bestechenden Aktualität, bis Utopia erreicht ist und vielleicht noch darüber hinaus.

„Die Helden der Strugatzkis gelangen allmählich zu der Überzeugung, daß die Hindernisse, die dem Happy–End entgegenstehen, so in der menschlichen Natur verwurzelt sind, daß sie möglicherweise nicht imstande sind, die Hindernisse zu überwinden, ohne dabei ihre Menschlichkeit zu verlieren. Folglich besteht das Heldenstück darin – das gilt für die Helden, ihre Autoren und ihre Leser gleichermaßen – , den utopischen Impuls nicht zu verlieren, trotz der Unvorstellbarkeit Utopias in einer entfremdeten Welt (…) Die futuristische Menschheit, die die Strugatzkis nach 1964 schildern, kann nicht mehr kritisch denken. Sie versinkt in Apathie und Konformität, gibt sich mit persönlichen Befriedigungen zufrieden, während Militarismus, Bürokratie und Konsumdenken den utopischen Wunsch in seine Parodie verwandeln: die trostlose Antiutopie des Krieges, irrationaler Rationalisierung und körperlichen Wohlbehagens, das den Verstand abtötet. Die entgeistigten Menschen der Zukunft verlieren die Kraft, sich ein Gutes außerhalb ihres persönlichen Vorteils vorzustellen, und verlieren damit die Macht, sich das Glück der Menschengattung zu wünschen.” (Csicsery–Ronay jr., p.117–118).

The Future is Red

Phase 3 (1965–1972): Kater auf Urlaub

Für Suvin ist dieser, auch von mir wegen seines skurrilen Humors und der verfremdeten Märchenelemente besonders geschätzter Roman Montag beginnt am Samstag (Moskau 1965, Insel, Frankfurt 1974, Suhrkamp, Frankfurt 1982) zusammen mit Das Märchen von der Troika (Moskau 1987, Verlag Volk und Welt, Berlin 1990, vorher war ein Erscheinen in Buchform nicht möglich, Suhrkamp, Frankfurt 1993) das zentrale Werk der dritten Phase. Für mich beginnt hier der gesellschaftlichen Realität angemessenene postmoderne Qualität. Das erkennt und analysiert auch Suvin so, nennt es aber natürlich nicht postmodern.

Die aus ihrem herkömmlichen Rahmen herausgelösten (dekonstruierten) Märchenelemente, der vermeintlich fehlende Sinn, schwarze und weiße Magie, die die Menschen in Eingeweihte und Nichteingeweihte (‘Elect versus Preterite’ bei Pynchon) trennt, sind für mich die Gründe dafür, die späten Strugatzkis postmodern zu nennen.

"Im Kleid eines modernisierten Volksmärchens verkörpern sie die dieser Phase zugrunde liegende Atmosphäre – menschliche Beziehungen, die durch das Fehlen linearer Logik und linearen Sinns völlig ausgehöhlt sind. Die modernen Wissenschaften wie die modernen gesellschaftlichen Verhältnisse sind der uneingeweihten Mehrheit der Bevölkerung so fremd und entfremdet, als seien sie weiße und schwarze Magie. (…) Montag beginnt am Samstag befaßt sich in erster Linie mit Gebrauch und scharlatanenhaftem Mißbrauch der Wissenschaft." (Suvin, p. 265)
Bei diesem Roman ist wichtig, nicht zu vergessen, daß sich die Strugatzkis hier strikt auf einer gedachten Grenzlinie zwischen Magie und Wissenschaft bewegen. Jede wissenschaftliche Aussage kann durch einen magischen Impuls gebrochen werden, die Magie aber sieht sich mit der unüberwindbaren Bürokratie, die selbst unerklärliche Phänomene verwalten will, konfrontiert. Diese widersetzen sich jedoch ihrer Natur gemäß einer schubladen- und schablonenhaften Klassifizierung.
Der Programmierer Alexander Privalov, der auch in Das Märchen von der Troika der Erzähler ist, gelangt in diesem Roman nach Solovec, wo «Nitschawo» liegt, das Naturwissenschaftliche Institut für Zauberei und Wohlfahrt, wo man sich wie in Pynchons «White Visitation» der wissenschaftlichen Erforschung und Nutzbarmachung des Übersinnlichen verschrieben hat und das deshalb zu einem Refugium für abgehalfterte Märchengestalten geworden ist. Im ersten Teil des Romans, Verwirrung um einen Diwan, wird Sascha mit verschiedenen Märchenfiguren aus dem russischen Volksmärchen konfrontiert, logiert bei einer Hexe, kommt bei der wissenschaftlichen Erforschung eines «revertierenden Fünfers» mit dem Gesetz in Konflikt und wird schließich von einigen Mitarbeitern Nitschawos mit sanftem Druck dazu genötigt, dem Institut beizutreten, weil man dort dringend einen Programmierer braucht, denn von Märchengestalten bediente Computer stürzen gewiß häufig ab:
Ich bremste vor dem eigentümlichen Gebäude ohne Türen und mit der Aufschrift NITSCHAWO zwischen zwei Fenstern.
»Was bedeutet das eigentlich?« fragte ich. »Kann ich wenigstens erfahren, wo ich zu arbeiten gezwungen werde?«
»Natürlich«, sagte Roman. »Du kannst jetzt übrigens alles. Das ist das Naturwissenschaftliche Institut für Zauberei und Wohlfahrt. (…) Na, was bleibst du denn stehen hier? Gib Gas, Vorwärts!«
»Wohin denn?« fragte ich.
»Ja, siehst du denn nicht?«
Da taten sich meine Augen auf, und ich sah.
Aber das ist bereits eine ganz andere Geschichte.

(Montag beginnt am Samstag, p. 104–105)

The Future is Red

Phase 4 (1972–?): Das schwarze Märchen: Picknick am Wegesrand

Dieser Roman, von dem polnischen Regisseur Andrei Tarkowski unter dem Titel Stalker verfilmt, gilt als Höhepunkt und Meisterwerk der Strugatzkis. Eine außerirdische Zivilisation hat (wie und zu welchem Zweck bleibt offen) die Erde besucht und über den Globus verteilt sechs rätselhafte Zonen zurückgelassen. Eine dieser Zone befindet sich zum Teil in der kanadischen Stadt Harmont, wo der Roman lokalisiert ist. Diese Zone bewirkt beachtliche Verletzungen des Kausalitätsprinzips, die in ihr gefundenen Artefakte (Nullen, Attacks) stellen einige unserer Naturgesetze in Frage und sind zum Teil nützlich, zum Teil lebensgefährlich. Hauptperson ist Roderic Schuchart, ein sogenannter Schatzgräber, der anfangs im wissenschaftlichen Auftrag in die Zone eindringt und später den Schwarzmarkt bedient. Am Ende dringt er bis zu der Goldenen Kugel vor, der Wunschmaschine (wie die Geschichte in der ersten Fassung hieß), dem von tödlichen Fallen umgebenen wertvollsten Objekt der Zone und äußert einen bemerkenswerten, typischen strugatzkischen Wunsch, der hier nicht verraten wird.

Für Csicsery–Ronay jr., der den Roman

"eine Fabel über die Verzweiflung der Intelligenzija der sechziger Jahre, die sich der völligen Ausschaltung der Reformbewegung gegenübersah," (p. 126)
nennt, ist Stanislaw Lems "Nachwort" zu Picknick am Wegesrand einer der besten Kommentare zu dem Roman, aber für meinen Geschmack urteilt Lem teilweise zu sehr als SF–Autor und zu wenig als Literaturwissenschaftler. Seine Beschreibung der Auswirkungen des Besuchs sowie seine Analyse der Besuchshypothesen sind jedoch hervorragend. Lem verweist darauf, daß die "Verletzung der Kausalzusammenhänge" ein "hervorragender erzählerischer Effekt" ist. Nach meiner Ansicht zeigt sich hier der postmoderne Charakter des Romans, der eben mit diesem Effekt die große Spannung des Romans ausmacht. Das Geheimnis der Verletzung des Gesetzes von Ursache und Wirkung aber wird nicht gelüftet.


Roadside Picnic Picknick am Wegesrand polnische Ausgabe


Web Links

Brothers Strugatsky – von dieser russischen, aber auch englischsprachigen Seite kann man die Kurzgeschichte Poor, Cruel Folk sowie die kompletten Romane Roadside Picnic, (Picknick am Wegesrand), The Final Circle of Paradise (Die gierigen Dinge des Jahrhunderts) sowie The Time Wanderers downloaden. Auf französisch gibt es L'Escargot sur la pente (The Snail on the Slope, Die Schnecke am Hang).
bookmark zu einer Downloadseite

Russian prose and science fiction in English translation – Bulgakow, Strugatzki, Pelevin and others.

Hard to be a God – der komplette englische Text.

Monday begins on Saturday – der komplette englische Text.

Die Bibliothek Strugatzki – diese deutschsprachige Seite enthält bio– und bibliographische Angaben sowie Links und listet überdies die nach den Geschichten der Strugatzkis produzierten Filme und Hörspiele auf.

Boris Natanovich Strugatsky – Personalities of Saint-Petersburg.

Stalker – von Andrei Tarkovsky, 1979 - West Germany / USSR - 160 min.

I. Jefremow Das Mädchen aus dem All, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau o. J. Nachdruck der im Verlag Kultur und Welt erschienenen Übersetzung von Heinz Lorenz.

Roadside Picnic by Arkady and Boris Strugatsky – a review by Stuart Carter:

"(…) this is a truly superb work of science fiction – of any sort of fiction – and I can only conjecture that it’s because the Strugatskys are foreign – they’re Russian – that they’re not (more widely) acknowledged as masters of their art."

Roadside Picnic – parallel in Russisch und Englisch.
Roadside Picnic – English Translation by Antonina W. Bouis.
Roadside Picnic – Russischer Originaltext.

StrugatzkiBorja und ArkaschaStalker
Es ist nicht leicht ein Gott zu sein

Douglas Adams John Barth Samuel Beckett John Bunyan William Gaddis I. Jefremow Wassily Kandinsky Douglas K. Lannark Stanislaw Lem Bert Brecht: Laotse Jonathan Littell David Mitchell Mullah Nassreddin Vladimir Nabokov Victor Pelewin Thomas Pynchon Charlotte Roche Salman Rushdie J. D. Salinger Neal Stephenson Laurence Sterne William Carlos Williams Ludwig Wittgenstein Frank Zappa

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© Otto Sell – Wednesday, August 30, 2000
Last update Tuesday, September 06, 2011

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