Die Wohlgesinnten bei Amazon

Jonathan Littell – "Die Wohlgesinnten"

(2006 "Les Bienveillantes" – 2008 "Die Wohlgesinnten")

An welches Land denkt man automatisch zuerst, wenn man das Wort Literaturskandal hört — richtig, an Frankreich, und das nicht erst seit Michel Houellebecq oder Frédéric Beigbeder, denn schon 1856 mußte sich Gustave Flaubert wegen seiner "Madame Bovary" vor Gericht verantworten, und eigentlich erwartet man alle paar Jahre einen solchen literarischen Skandal in unserem Nachbarland, wo 1959 immerhin William S. Burroughs’ "Naked Lunch" zu einem Zeitpunkt verlegt werden konnte, als dies in den USA noch unmöglich war.

Die schlechte Nachricht also gleich zuerst: der diesjährige französische Literaturskandal findet in Deutschland statt, ist also weder humorvoll noch angemessen und die üblichen Verrisse der üblichen Verdächtigen, das übliche Genöle über die angebliche pornographische Mittelmäßigkeit des Werkes erinnern an all’ den Unsinn, den das Feuilleton seinerzeit über Thor Kunkels Roman "Endstufe" (2004) geschrieben hatte. Zum Glück aber gibt es auch andere Deutungen.

Anstatt sich auf das literarische Spiel einzulassen, zu dem der 1967 in New York geborene Autor jüdischer Abstammung den Leser dadurch einlädt, dass er in die Rolle eines fiktiven, zudem noch homosexuellen SS–Offiziers schlüpft (wer dächte da nicht an Pynchons Major Weissmann), scheint es einen unausgesprochenen deutschen Konsens zu geben, dass es einfach unangemessen ist, einen solchen Menschen ohne die gebotene Betroffenheitshaltung (und auch noch quasi ungefiltert) zu Wort kommen zu lassen. Das geht so nicht! Mittlerweile werden die Verrisse von Iris Radisch zu einer Empfehlung für mich, und ich widerspreche ihrer zentralen These gerne, dass Littell seinem Protagonisten Aue gestatten würde, "den Nachlass des Nationalsozialismus" zu polieren. Nichts, so behaupte ich, läge ihm ferner, und da die Intention des Autors eines Textes bei der Interpretation letztlich irrelevant ist, füge ich hinzu: die mir bis jetzt vorliegenden Seiten des Romans tun das auch nicht.

Als Deutscher könnte ich mir für ein solches literarisches Unterfangen, die Verarbeitung der historischen Fakten über den Holocaust in einem fiktionalen Werk, erzählt aus der Perspektive eines der Täter, eigentlich keinen besseren Autor als einen jungen Menschen jüdischer Abstammung vorstellen, der der Frage nachgeht, wie es geschehen konnte, dass eigentlich gebildete und zivilisierte Menschen, die einer hochentwickelten Kultur eines Landes entstammen, das sich selber als das Land der Dichter und Denker empfindet und beschreibt, zu bereitwilligen Schergen einer mörderischen Rasseideologie werden konnten, die mit Hilfe dieser Menschen den größten und in seiner Ausführung und Perfektion einmaligen Völkermord in der Geschichte der Menschheit begangen hat. Mit, wie ich nicht erst seit den ersten Seiten dieses Romans weiß, deutscher Gründlichkeit und Perfektion, immer wieder gerechtfertigt mit dem Verweis auf Befehl und Gehorsam:

"Die Vernichtung der europäischen Juden zwischen 1933 und 1945 erscheint uns heute als ein in der Geschichte beispielloses Ereignis. In der Tat hatte es in Ausmaß und Gestalt nie zuvor etwas Vergleichbares gegeben. Fünf Millionen Menschen wurden in einer geplanten Unternehmung in dem kurzen Zeitraum von nur wenigen Jahren getötet. (…) Die Bedeutung der historischen Beispiele läßt sich am besten im administrativen Bereich erfassen. Die Vernichtung der Juden war ein administrativer Prozeß; die Auslöschung des Judentums bedurfte der schrittweisen und systematischen Einführung administrativer Maßnahmen. Die Möglichkeiten einer modernen Gesellschaft, in kurzer Zeit eine große Anzahl in ihrer Mitte lebender Menschen zu töten, sind begrenzt. Hier besteht ein Effizienzproblem allergrößten Ausmaßes, das zahllose Hindernisse und ungezählte Schwierigkeiten mit sich bringt. Doch beider Durchsicht des dokumentarischen Materials zur Judenvernichtung stößt man zugleich auf die Tatsache, daß der deutsche Verwaltungsapparat wußte, was er tat. Mit unfehlbarem Orientierungssinn und erstaunlichem pfadfinderischen Gespür fand die deutsche Bürokratie den kürzesten Weg an ihr Ziel."
(Hilberg, S. 14-15)

Nein, zimperlich ist Littell nicht, wenn er, pedantisch wie ein deutscher Beamter, den Leser schon recht früh im Roman auf die Fakten verweist, die diesem zugrunde liegen:

"Halten wir uns also an die Zahl von Professor Hilberg, womit sich insgesamt folgendes Bild ergibt:
Tote sowjetischer Nationalität 20 Millionen
Tote deutscher Nationalität 3 Millionen
Zwischensumme (Krieg im Osten) 23 Millionen
Endlösung 5,1 Millionen
Insgesamt 26,6 Millionen, (…)

(…) Die militärische Auseinandersetzung mit der UdSSR hat offiziell vom 22. Juni 1941 um drei Uhr morgens bis zum 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr gedauert, was drei Jahre, zehn Monate, sechzehn Tage, zwanzig Stunden und eine Minute ergibt, abgerundet sind das 46,5 Monate, 202,42 Wochen, 1417 Tage, 34004 Stunden oder 2040241 Minuten (die überzählige Minute mitgerechnet). Für das als »Endlösung« bezeichnete Programm legen wir den gleichen Zeitraum zugrunde: Vorher, als noch nichts entschieden oder systematisiert war, sind die jüdischen Verluste eher zufälliger Natur. Setzen wir unser Zahlenspiel fort: Auf die Deutschen entfallen 64516 Tote pro Monat oder 14821 Tote pro Woche oder 2117 Tote pro Tag oder 88 Tote pro Stunde oder 1,47 Tote pro Minute — dies der Durchschnitt für jede Minute jeder Stunde jeden Tages jeder Woche jeden Monats jeden Jahres für die Dauer von drei Jahren, zehn Monaten, sechzehn Tagen, zwanzig Stunden und einer Minute. Für die Juden, die sowjetischen eingerechnet, erhalten wir rund 109677 Tote pro Monat oder 25195 Tote pro Woche oder 3599 Tote pro Tag oder 150 Tote pro Stunde oder 2,5 Tote pro Minute für den gleichen Zeitraum. Auf sowjetischer Seite schließlich ergeben sich ungefähr 430108 Tote pro Monat, 98804 Tote pro Woche, 14114 Tote pro Tag, 588 Tote pro Stunde beziehungsweise 9,8 Tote pro Minute, gleicher Zeitraum. Das ergibt unter dem Strich für meinen Tätigkeitsbereich einen Durchschnittswert von 572043 Toten pro Monat, 131410 Toten pro Woche, 18722 Toten pro Tag, 782 Toten pro Stunde und 13,04 Toten pro Minute, und das für alle Minuten aller Stunden aller Tage aller Wochen aller Monate jeden Jahres des gegebenen Zeitraums, der, erinnern wir uns, drei Jahre, zehn Monate, sechzehn Tage, zwanzig Stunden und eine Minute umfasst. Diejenigen, die sich über die überzählige und in der Tat etwas pedantisch wirkende Minute lustig gemacht haben, mögen sich vor Augen halten, dass sie immerhin einen Mittelwert von 13,04 zusätzlichen Toten bedeutet, und sich, wenn sie denn dazu fähig sind, dreizehn Menschen aus ihrem Umfeld vorstellen, die in einer Minute getötet werden." (Folge 3: Nun zur Mathematik)

Diese, gleichsam manieristisch ausgewälzte Textstelle wäre literarisch vielleicht unsinnig, langweilig oder vielleicht sogar obszön, wenn da nicht der letzte Satz des Abschnitts wäre, der die distanzierte Information, die ein Geschichtswerk vermittelt, auf die individuelle Perspektive des Lesers zurückverweist.

Worum es Littell geht (und was ihm anscheinend auch gelingt), ist der literarische Versuch eines Einblicks in die Innenwelt eines Monstrums, das sich nicht als solches empfindet, kaum mehr empfinden kann, weil sein monströses Handeln innerhalb des monströsen und verbrecherischen Rahmens, in dem es stattfindet, eben nicht als abartig gesehen wird, sondern normal ist. Und an dieser Stelle bekommt der Roman eine anthropologische Wendung, die Littell auch vorgehalten worden ist, die bereits in den ersten Sätzen des Romans mitschwingt und somit das übergeordnete Thema vorgibt. Der Leser sieht sich vor die Frage gestellt: inwieweit betrifft es uns alle, wie weit würden wir gehen, wenn wir uns innerhalb eines solchen Rahmens, mit äußerst beschränkten Möglichkeiten, uns dem allen zu entziehen, wiederfinden würden:

"Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen." (Folge 1: Toccata)

Nun, einige von uns schon, und zwar, wenn es geht, aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln und Perspektiven, bitte, damit unser Gesamtbild so umfassend wie möglich sein möge, wenn es schon unmöglich ist, die tatsächliche Ungeheuerlichkeit des Holocaust zu begreifen! Und so wie uns Thor Kunkel die "Wochenscheuen" präsentierte, die zwar vom System profitierten, sich ihm aber nicht zugehörig fühlten und sich der Illusion hingaben, ihr Abscheu vor dem System schütze sie vor Verantwortung, präsentiert uns Littell einen absolut entgegengesetzten Charakter. Max Aue setzt sich in explizit von jenem Schuldeingeständnis ab, das Hans Frank in der Nürnberger Haft abgegeben hatte, und betont, dass seine Aufzeichnungen

"(…) zumindest frei von jeglicher Reue sein werden. Ich bereue nichts: Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht. (…) Ich bin nicht Hans Frank, ich hasse Getue." (Folge 1: Toccata)

Diesem Argument ist man ständig im Westdeutschland der sechziger und siebziger Jahre begegnet. Es begann in der Familie, wenn man als Sechsjähriger nach den ersten Auschwitz–Bildern und –Filmen harmlos gefragt hatte, wer denn die Nazis gewesen seien, als erstes die Antwort "wir" und in den folgenden Jahren immer wieder genau jene Begründung des Max Aue zu hören bekam, und setzte sich in der Schule fort, wo man ständig darauf verwiesen wurde, dass auch die Anderen Dreck am Stecken hätten. Dann die Ausbildung im Versorgungsamt, wo ich Kriegsopferrenten zu berechnen lernte, und wo nach dem Krieg bevorzugt Leute eine Beamtenstelle erhalten hatten, die Bezüge nach dem "131er Gesetz und eine Kriegsversehrtenrente" bezogen: für den Holocaust wären immer nur ganz wenige spezielle Verbrecher ("die SS") verantwortlich gewesen und man selber habe im übrigen nur auf Befehl gehandelt und gemäß der Vorschriften seine Arbeit gemacht. Aus den Akten ging die Wahrheit natürlich nicht hervor, aber irgendwie hat mich das Gefühl niemals verlassen, dass die Täter besser versorgt wurden als die überlebenden Opfer...

Soviel zu den persönlichen Voraussetzungen. Literarisch erhebt sich natürlich die Frage nach Thomas Pynchons "Gravity’s Rainbow", wo der Holocaust allerdings weitestgehend ausgeblendet bleibt, ohne dass der Vorgang jedoch gänzlich verschwiegen würde. Es gab hierzu ernsthafte Auseinandersetzungen in der Diskussion des Romans auf der Pynchon–Mailing–Liste und ich tendiere zu der Ansicht, dass die Hinweise deutlich genug für den Leser sind, ohne dass jede Romanfigur notwendigerweise Kenntnis von den Vorgängen in den Lagern haben musste. Jedem Leser des Romans war selbstverständlich klar, was gemeint ist, wenn von niederländischen Juden die Rede ist, die in den Osten geschickt worden sind und "geopfert" wurden, um eine Agentin in eine deutsche V2–Batterie einzuschleusen.

"Gravity’s Rainbow" ist aber kein historischer Roman, vielmehr ist es eine postmoderne Absage an die Vorstellung einer tatsächlichen historischen Wahrheit, an deren Stelle viele individuelle Wahrheiten getreten sind, all’ jene Erzählungen, die auch wir als die Anekdoten dieses Krieges kennengelernt haben. In "Die Wohlgesinnten" stellt Jonathan Littell diesen Anekdoten nun eine Anekdotensammlung anderer Art gegenüber, ein Bündel all’ jener Anekdoten, die man bislang vergessen hat zu erzählen, entlang der historischen Geschichte des Holocaust, wie wir sie aus den Büchern von Hilberg, Lanzmann und Goldhagen kennen. Und er macht uns Nachgeborenen alle zu Mittätern, einfach indem er uns zeigt, wie wenig wir uns im Grunde von einem Menschen wie Max Aue unterscheiden:

"Überlegt einmal: Woran denkt ihr im Laufe eines Tages? Im Grunde an sehr wenig. Es wäre doch ein Leichtes für euch, eure alltäglichen Gedanken vernünftig zu klassifizieren: praktische oder mechanische Gedanken, Planung der Zeit– und Handlungsabläufe (Beispiel: Kaffeewasser vor dem Zähneputzen aufsetzen, aber erst danach Brot toasten, weil es früher fertig ist), berufliche Probleme, Geldsorgen, häusliche Schwierigkeiten, sexuelle Fantasien. Ich erspare euch die Einzelheiten. Beim Abendessen betrachtet ihr das alternde Gesicht eurer Frau, die euch viel reizloser erscheint als eure Geliebte, ansonsten aber in jeder Hinsicht die Richtige ist; was soll’s, so ist das Leben, also redet ihr über die letzte Regierungskrise. In Wahrheit ist euch die letzte Regierungskrise herzlich egal, aber über was solltet ihr sonst reden? Klammert diese Gedanken aus, und ihr werdet mir zustimmen, dass nicht viel bleibt. Natürlich gibt es auch andere Augenblicke. Zwischen zwei Waschmittelwerbungen unerwartet ein Tango aus der Vorkriegszeit, sagen wir, Violetta, und schon sind auch das nächtliche Plätschern des Flusses, die Lampions der Buden und der leichte Schweißgeruch auf der Haut einer heiteren Frau wieder da; am Eingang eines Parks ruft das lächelnde Gesicht eines Kindes dasjenige eures kleinen Sohnes wach, kurz bevor er laufen lernte; auf der Straße bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und bringt die großen Blätter und den weißen Stamm einer Platane zum Leuchten: Und plötzlich denkt ihr an eure Kindheit, an den Schulhof, auf dem ihr Krieg spieltet, mit Schreckensgeschrei und Glücksgeheul. Da habt ihr einen menschlichen Gedanken. Aber das kommt sehr selten vor." (Folge 1: Toccata)

Doch wenn man die Arbeit, die banalen Verrichtungen, die alltägliche Hektik unterbricht, um sich ernsthaft einem Gedanken zu widmen, sieht alles ganz anders aus. Dann kommen die Dinge bald in schweren schwarzen Wellen hoch. Nachts zergehen die Träume, entfalten und vervielfältigen sich und lassen eine feine feuchtbittere Schicht im Kopf zurück, die nach dem Aufwachen lange braucht, bis sie sich auflöst. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es nicht um Schuldgefühle oder Gewissensbisse. Die gibt es natürlich auch, das will ich nicht leugnen, aber mir scheint, die Dinge liegen viel komplizierter. Selbst ein Mensch, der nicht im Krieg war, der nicht töten musste, wird erlebt haben, wovon ich rede. Die Rückkehr der kleinen Bosheiten, Feigheiten, Falschheiten und Schäbigkeiten, die wir uns alle irgendwann haben zuschulden kommen lassen. Kein Wunder also, dass die Menschen die Arbeit erfunden haben, den Alkohol, das müßige Geschwätz. Kein Wunder, dass das Fernsehen solche Erfolge feiert." (Folge 2: Aue – ein Henker und Spitzenfabrikant)

Die Postmoderne war eine Folge des 2. Weltkrieges, und durch die Erfahrung des Holocausts kann niemand mehr in die vermeintliche "Unschuld" der Welt jener Zeit vor dem Großen Krieg zurückkehren:

"All das hat für mich viel von seinem Reiz verloren. Der Körper eines schönen Jünglings, eine Skulptur von Michelangelo, das macht keinen Unterschied: Der Atem stockt mir nicht mehr. Es ist wie nach einer langen Krankheit, wenn einem nichts mehr schmeckt, wenn es egal ist, ob man Rind oder Huhn isst. Man muss Nahrung zu sich nehmen, das ist alles. Ehrlich gesagt, gibt es nicht viel, woran ich Interesse finde. Möglicherweise an der Literatur, aber auch da weiß ich nicht so recht, ob es nicht reine Gewohnheit ist. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Erinnerungen auf: um mein Blut in Wallung zu bringen, um zu sehen, ob ich noch etwas empfinde, ob ich noch ein bisschen leiden kann. Seltsame Übung." (Folge 3: Nun zur Mathematik)


Links

Wikipedia (de)
Wikipedia (fr)
Wikipedia (en)
Perlentaucher
Frankfurter Allgemeine Reading Room — eine grossartige Idee.
Deutsche Welle – Bücherwelt — Sendung: 24.02.2008/mp3–Download.

Kippe, Whiskey, Künstlerposen — von Dirk Knipphals, TAZ, 01.03.2008.

"Klaus Theweleit verteidigte Jonathan Littell in der taz mit einem Namen: Thomas Pynchon. In der Tat können "Die Wohlgesinnten" auf einige Wunscherfüllungsfantasien treffen. Es wäre eben erschreckend und faszinierend zugleich, einen Roman zu haben, der auf der literarischen Höhe von "Gravity’s Rainbow" alle Aspekte des Nationalsozialismus enthält, inklusive Judenmord und Bürokratieanforderungen."

Seid ihr überhaupt sicher, dass der Krieg vorbei ist? — Eine Werkeinführung von Frank Schirrmacher, F.A.Z., 02.02.2008, Nr. 28, Seite 33.

"Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" erscheint Ende Februar in deutscher Sprache. 1381 Seiten, geschrieben aus der Perspektive eines SS–Obersturmführers, der als Mitglied des Sonderkommandos 4a und des Reichssicherheitshauptamts zwischen 1941 und 1945 an der Planung des Holocaust beteiligt ist, ihn perfektioniert, umsetzt und ausführt."

In der Seele eines Täters — von Wolfgang Schneider, DLF–Büchermarkt, 24.02.2008, als mp3–File .

"Keine andere Regierung in der deutschen Geschichte konnte sich je auf solche enthusiastische Massenzustimmung verlassen wie das Hitler–Regime. Heute blicken die Nachgeborenen mit größter Befremdung auf die Nazi–Epoche und die mit ihr verbundenen Menschheitsverbrechen. Wie war es nur möglich? Wollen wir unsere Vorfahren nicht allesamt für unzurechnungsfähig erklären, wollen wir sie vielmehr verstehen und ihre Geschichte begreifen, dann müssen wir uns auch auf die Gedankengänge der Überzeugungstäter sowie der zahllosen Mitläufer versuchsweise einlassen. Die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 spielte sich für die Zeitgenossen ja mit der gleichen Plausibilität ab, mit der wir unsere Gegenwart erleben. Solche "Plausibilität von einst" ist heute vielleicht nur noch mittels Literatur nachzuempfinden. Historische Romane sind Zeitreisen."

Die jüdischen Zwillinge – Klaus Theweleit greift die Littell–Kritiker an — Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.02.2008.

""Gibt es Regeln in der Literatur, Frau Radisch?" "Aber ja", schallt die Antwort, "aber nur!", aus der "Zeit" wie aus manch anderem deutschen Feuilleton – einem Buch entgegen, dessen Ruf von Westen her über den Rhein gewaltig zu uns dringt; das überall entschieden besprochen ist, bevor der deutsche Verlag es überhaupt ausgeliefert hat; dem heftig die rote Karte gezeigt wird; dem nachgewiesen wird, dass man in Frankreich, wo dieser Schmarren 800.000 Mal verkauft worden ist, wieder mal keine Ahnung hat von so urdeutschen Angelegenheiten wie den Massenmorden des Zweiten Weltkriegs und der angestrebten Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazi–Deutschen. Es hallt ein Ruf wie Donnerhall: "So nicht, Herr Littell!"

Was hat er denn getan, der Arme? Er lässt auf 1381 Seiten – etwas reichlich, zugegeben – die deutsche Kriegs– und Ausrottungspolitik der Jahre 1941 bis 1945 von einem Ich–Erzähler ausbreiten, der unter dem Namen Max Aue, SS–Obersturmbannführer, figuriert. Er nennt das Ganze Roman, lässt die deutschen Mordgeschichten darstellen aus der Sicht und in der Sprache eines hochrangigen Täters, wobei er die Personennamen der tatsächlichen Geschichte benutzt. Historisch scheint er bestens informiert. Die SS–Leute, die auftreten, und die Handlungen, die er beschreibt, hat es gegeben. Aber: Täterperspektive, womöglich Einfühlung; "darf man das?" Wo wir sonst – Regel! – an Bücher aus der Opferperspektive gewöhnt sind; die wir gelernt haben, gut und geduldig zu goutieren.

Was ist in sie gefahren bei der Qual der Lektüre? Wenn ich auf ein Buch stoße, das mich derart abstößt, lese ich nicht 1400 Seiten; ich lege es nach fünfzig weg und überlasse das Besprechen jemand anderem."

Wem gehört der SS–Mann? — von Klaus Theweleit.

"Aber wozu muss ein Roman ein Zentrum haben? Wozu Charaktere? Mr Slothrop in Pynchons Gravitys Rainbow ist auch kein Charakter, sondern Kunstfigur, die durch eine Unzahl schräger Situationen geführt wird – u. a. wie Max Aue durch Mittelbau/Dora – um uns die Mysterien des deutschen Raketenbaus nahezubringen."

Jonathan Littell erklärt jeden zum Nazi — von Tilman Krause, Die Welt 15. Februar 2008.

"Wenn Littell uns seine Lesefrüchte über die mal turk–, mal semitischstämmigen Bergvölker im Kaukasus präsentiert oder wenn der Roman in Statistiken zur „Selektionierung“ arbeitsfähiger Häftlinge von Oranienburg bis Auschwitz schwelgt, dann mag das zwar auf einer weiteren Ebene den Organisations–Wahn der Nazis abbilden; den Leser ermüdet es kolossal. Was ihn hingegen fesselt, ist die Literarizität von Littells erzählerischem Unternehmen. Der Autor hat nämlich, darin seinem Vorbild Pynchon nahe, einen ungemein literaturhaltigen Roman geschrieben. Die „Orestie“ als erzählerisches Strukturprinzip wurde bereits erwähnt. Doch bei ihr bleibt es nicht. Zahllos sind die Verweise auf Genet und Bataille, wenn es um die sexuellen (Gewalt–)Phantasien Aues geht."

Am Anfang steht ein Missverständnis — von Iris Radisch, DIE ZEIT, 14.02.2008 Nr. 08.

"Warum gibt es so viel Aufregung über ein literarisch mittelmäßig bis dürftig geratenes, 1400 Seiten starkes Debüt eines bis vor Kurzem gänzlich unbekannten Autors? Die Antwort liegt auf der Hand. Das Buch ist eine strategische Provokation. (…) Bleibt die allerletzte Frage: Warum sollen wir dieses Buch eines schlecht schreibenden, von sexuellen Perversionen gebeutelten, einer elitären Rasseideologie und einem antiken Schicksalsglauben ergebenen gebildeten Idioten um Himmels willen dennoch lesen? Ich muss gestehen: Pardon, chers amis français, aber auf diese Frage habe ich keine Antwort gefunden."

Mögen Sie Käse? – Jonathan Littell im FR–Interview, Frankfurter Rundschau, — 24.06.2008.

Mir saß er nun gegenüber, dieser bleiche, vierzigjährige Jüngling mit Ohrring und fahlem Blick, dem man die Leidenschaft, die in ihm lodert, nicht ansieht. Wie schon abends zuvor trug er unter dem Sommeranzug ein T–Shirt mit dem berühmten Spruch aus Melvilles Erzählung "Bartleby": "I would prefer not to". Seine geradezu schamlose Offenheit überraschte mich. Sogar eine Tonbandaufzeichnung erlaubte er. Delf Schmidt, der, von gelegentlichen Lachkrämpfen geschüttelt, daneben saß, rief in regelmäßigen Abständen das Wort "absurd" in den Mittagshimmel.
(…)
Sie hassen Interviews.
Ja, man soll mein Buch lesen, das genügt. Wer sich für einen Schriftsteller interessiert, weil er sein Buch liebt, kommt mir vor wie jemand, der sich für Enten interessiert, nur weil er gern Stopfleber isst. Es ist Unsinn.
(…)
In Ihrem Roman beschreiben Sie ausführlich die homosexuellen Praktiken der Hauptfigur, eines SS–Offiziers im Zweiten Weltkrieg. Ich habe mich gefragt, woher Sie Ihre Kenntnisse haben.
Darauf antworte ich nicht. Chacun sa merde, wie die Franzosen sagen. Das ist privat. Sie sollten mich nicht fragen, mit wem ich ficke. Ich frage Sie ja auch nicht, mit wem Sie ficken.
Ich ficke nicht.
Dann tun Sie mir leid. Mögen Sie Käse?
(…)
Zu glauben, ein Autor wisse, warum er dies oder jenes schreibt, ist ein weit verbreiteter Irrtum in der Geschichte der Literaturkritik.

Seite 2:

Das Grausamste, beim Lesen kaum Erträgliche in Ihrem Roman ist die Beschreibung des 1941 von den Deutschen verübten Massakers von Babyn Jar, jener Schlucht bei Kiew, in der 33 000 Juden planmäßig erschossen wurden.
Ja, aber ich dachte beim Schreiben nicht an die Leichen, sondern ich ging vor wie ein Maler, der vor der Leinwand steht und überlegt, ob er da ein wenig Rot, ein kräftiges Grün oder Gelb oder Schwarz nehmen soll. Das Schreiben ist wie das Mischen von Farben. Man sucht den richtigen Ton. (…) Ich denke, wenn ich schreibe, nur an die Wörter. Ich tue meine Arbeit, und wenn das Buch dann erscheint, muss der Leser die seine tun.
(…)
Die Welt, in der wir leben, ist für Sie ein einziger Schrecken.
Ja, sie ist ziemlich unerträglich. Sie ist ein Alptraum, beschissen, ein einziges Grauen, aber es gibt keinen Ausweg.
(…)
Man muss sich ablenken...
Nein, im Gegenteil, man muss sich den Schrecken immer vor Augen halten, um das Schöne, das es trotzdem gibt, mehr zu genießen.

Seite 3

Jedes Mal, wenn ich meine Kinder sehe, denke ich: Sie gehen in die Schule und kommen vielleicht nicht mehr zurück. Es könnte sie jemand entführen und töten oder in einen Keller sperren wie dieser Verrückte aus Österreich. Es ist ein schrecklicher Gedanke. Aber was kann man tun?
(…)
Sind Sie religiös?
Nein. Die einzige Theologie, mit der ich sympathisiere, ist die Agnostik. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er ein erbärmlicher Stümper, denn er hat Scheiße gebaut. Die Welt, die er erschaffen hat, ist ihm gründlich misslungen. Wenn wir all die falschen Erklärungen, Gott, die Religionen, die Transzendenz, aus unserem Leben entfernen und einfach nur sehen, was um uns geschieht, was wir einander antun und wie wir alles zerstören, dann müssen wir sagen, es ist abscheulich, es ist grauenvoll, und man begreift es nicht.

Meisterwerk oder Provokation? — Jonathan Littells Skandalroman spaltet auch in den USA die Leser — von Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 10. März 2009.

"Der mit Aplomb formulierte Verriss der Starkritikerin Michiko Kakutani in der «New York Times» und die emphatische Gegenkritik des Autors Michael Korda im Internet sind die Stützpfeiler einer von den Medien sogleich zur «erregten Debatte» hochgeschriebenen Diskussion, die dem Phänomen Littell auch in den USA die gebührende Aufmerksamkeit bescheren soll."

Lust und Leid — von Peter Urban–Halle, Deutschlandfunk, 06.03.2009, als mp3–file

Jonathan Littell: "Ein Sonntag im Sommer", Matthes & Seitz, Berlin 2009, 80 Seiten

Nach Jonathan Littells Riesenepos "Die Wohlgesinnten" erscheinen nun - wie in Frankreich nicht in seinem Hauptverlag - mit "Ein Sonntag im Sommer" die Vorübungen: vier Erzählungen über das Nebeneinander von Lust und Leid, über den Wahn, der von einem Besitz ergreift, und über die Unentschlossenheit.

Englische Links

The evil that ordinary men can do — by Jason Burke, The Observer, Sunday 22 February 2009.

"(…) The Kindly Ones also owes its success to its quality as a work of fiction. Notwithstanding the controversial subject matter, this is an extraordinarily powerful novel that leads the stunned reader through extremes of both realism and surrealism on an exhausting journey through some of the darkest recesses of European history. (…) One of Littell’s purposes with this novel is clearly a documentary one. Whatever other criticisms have been levelled at it, no one has questioned the thoroughness of his research, an exhaustive process that took five years and included walking the terrain he describes. (The book was written quickly, by hand, one winter in Moscow.) Littell inserts the character of Aue into a landscape of impressive historical exactitude; the pages describing his arrival in Stalingrad are especially rich in detail, pace and clarity. This is narrative photo–realism, the work of a gifted writer who in lean, sharp prose conjures a powerful sense of place and action. His fingernail sketches of senior Nazis, including one of Hitler in his bunker, are superb."

Unrepentant and Telling of Horrors Untellable — by Michiko Kakutani, The New York Times, February 23, 2009.

"The novel’s gushing fans, however, seem to have mistaken perversity for daring, pretension for ambition, an odious stunt for contrarian cleverness. Willfully sensationalistic and deliberately repellent, "The Kindly Ones" — the title is a reference to the Furies, otherwise known in Greek mythology as the Eumenides — is an overstuffed suitcase of a book, consisting of an endless succession of scenes in which Jews are tortured, mutilated, shot, gassed or stuffed in ovens, intercut with an equally endless succession of scenes chronicling the narrator’s incestuous and sadomasochistic fantasies.
(…)
Although Aue contends that he is "a man like other men," "a man like you" and depicts himself as a cultivated intellectual who reads Flaubert and Kant, his story is hardly a case study in the banality of evil. Whereas the heroes of the play "Good" and the movie "Mephisto" were ordinary enough men who out of ambition or opportunism or weakness turned to the dark side and embraced the Nazi cause, Aue is clearly a deranged creature, and his madness turns his story into a voyeuristic spectacle — like watching a slasher film with lots of close–ups of blood and guts.
(…)
Whereas the philosopher Theodor Adorno warned, not long after the war, of the dangers of making art out of the Holocaust ("through aesthetic principles or stylization," he contended, "the unimaginable ordeal" is "transfigured and stripped of some of its horror and with this, injustice is already done to the victims"), whereas George Steiner once wrote of Auschwitz that "in the presence of certain realities art is trivial or impertinent," we have now reached the point where a 900–plus page portrait of a psychopathic Nazi, dwelling in histrionic detail on the barbarities of the camps, should be acclaimed by Le Monde as "a staggering triumph.""

A Brilliant Holocaust Novel — by Michael Korda, The Daily Beast, February 25, 2009.

"Take it or leave it, Littell knows almost everything there is to know about Nazi Germany, gets every detail right, and gives us the whole thing without sugar coating, or any attempt to make it any easier on your conscience or your feelings or whatever remains of your sense of what is right, or justice, or any lingering hope you may have that murderers feel remorse, or that the murdered have dignity. The murderers here—the hero foremost—are without pity, remorse, or guilt; murdering is their job, the way to promotion and honors, duty; the murdered are faceless, masses of men, women, and children whose death is merely a kind of large–scale German public–works program, carried out with the support of many Ukrainians, Byelorussians and inhabitants of the Baltic republics, who were as happy to see their Jewish neighbors killed as the Germans were to do it. Littell is a genius, both as a historian, and as a novelist, but he isn’t trying to make you feel good about yourself, or feel morally superior to the Germans, or come away from the book with the feeling that anything has been gained or proved by the murder in cold blood of six million people. Most of the people who did it got away with it, like the hero of this novel, and didn’t lose a night’s sleep over it, and the people who were murdered are—dead.
(…:)
Deader than dead, actually, because all over the world there are people who refuse to believe that they were ever killed in the first place, not just among jihadists, or in the Arab mainstream press, or in the tattooed ranks of the Aryan Nation, or Catholic bishops, but also among otherwise respectable people and educators who still don’t get it that perfectly ordinary Germans committed mass murder, then, when the war was over, went home and got on with their lives, and even collected their pensions."

The Monster in the Mirror — by David Gates, The New York Times, March 5, 2009.

Aue’s aestheticism and erudition seem intended to raise that much–raised question: How can a sublimely civilized man also participate in hellish atrocities? And, by extension, how could the nation of Bach and Beethoven, Goethe and Schiller — but you’ve heard all this before. Such is presumably the basis on which the novel’s publisher bills it as "a morally challenging read." (…) "The Kindly Ones," for all its aspirations to profundity, is less a moral challenge than a sheer test of endurance. Aue is simply too much of a freak, and his supposed childhood trauma too specialized and contrived, for us to take him seriously."

Literatur

Daniel Jonah Goldhagen: "Hitlers willige Vollstrecker — Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust", Siedler, Berlin 1996.

Joe J. Heydecker, Johannes Leeb: "Der Nürnberger Prozess", Kiepenhauer & Witsch, Köln 1985.

Raul Hilberg: "Die Vernichtung der europäischen Juden", durchgesehene und erweiterte Taschenbuchausgabe in drei Bänden, aus dem Englischen von Christian Seeger u.a., S. Fischer, Frankfurt a.M. 1990.

Claude Lanzmann: "Shoah", Claasen, Düsseldorf 1986.

Thomas Pynchon: "Die Enden der Parabel", Rowohlt (das neue Buch), Reinbek bei Hamburg 1981.



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