David Mitchell – Cloud Atlas Rezension

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(Sceptre Books, London 2004, ISBN 0340822775, Random House, 0-375-50725-6)

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Rezension

"Beyond the Indian hamlet, upon a forlorn strand, I happened on a trail of recent footprints." (3)

David Mitchells dritter Roman Cloud Atlas (London 2004) ist ein Meisterwerk, das eindrücklich die Behauptung widerlegt, die vielgescholtene literarische Postmoderne sei tot, hätte nichts mehr zu erzählen oder sei außerstande, interessante und glaubwürdige Charaktere zu kreieren.

In den sechs Geschichten, die lose und doch ungemein kunstvoll und intelligent miteinander verwoben den Roman bilden, schafft es Mitchell blendend, seine Themen durch seine Charaktere und das, was ihnen widerfährt, im wahrsten Sinne des Wortes "zu erzählen," und den Leser dabei spielerisch in seine Reflexionen über die moderne Welt (und wohin diese führen mag) hineinzuziehen.

Das "grosse" Thema des Romans ist dabei die menschliche Gier, die durch alle Zeiten und Epochen nur allzu verbreitete Bereitschaft, sich an seinen Mitmenschen zu bereichern und auch deren Tod und Ausrottung sowie die Zerstörung der natürlichen Umwelt dabei in Kauf zu nehmen und, was die Sache noch schlimmer macht, dieses auch noch im Namen irgendeiner religiösen, politischen oder pseudowissenschaftlichen Ideologie zu erklären und zu verbrämen. Es ist Mitchells grosses Talent, daß er dies alles ohne moralischen Zeigefinger, sondern hochinteressant, intelligent, aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus und witzig zu erzählen vermag. Zeitlich erstreckt sich der Roman von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins 22. Jahrhundert, vom Höhepunkt des europäischen Imperialismus bis in eine dystopische, in ihren Grundzügen jedoch bereits heute vorhersehbare Zukunft.

Die Struktur des Roman orientiert sich, wie Mitchell in mehreren Interviews berichtet hat, am Vorbild einer Babuschka, jener russischen Puppe, die eine weitere Puppe enthält, die wiederum eine Puppe enthält usw. Fünf der sechs Geschichten oder Erzählstränge, die den Roman bilden, werden jeweils unvermittelt unterbrochen und nach der zentralen sechsten Geschichte, die in einem Stück erzählt wird, in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgenommen, so daß sich die folgende Struktur ergibt: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 5, 4, 3, 2, 1. Im Gegensatz zur Babuschka enthält die jeweils folgende Geschichte einen Verweis auf die vorherige, in Form eines kulturellen Artefakts; eines Buches (2), von Briefen (3), eines Romanmanuskripts (4), eines Films (5) oder einer holographischen Computeraufzeichnung (6). Man sollte also durchaus der Versuchung widerstehen, jeweils eine der unterbrochenen Geschichten ganz zu lesen, weil man unbedingt wissen will, wie es mit dem jeweiligen Protagonisten weitergeht, denn man würde so verpassen, wie eben dieser Protagonist von dem aus der darauffolgenden Geschichte "gelesen" wird.

Stilistisch unterscheiden sich die sechs Geschichten daher naturgemäß ganz erheblich und es wird einiger sehr talentierter Übersetzer bedürfen, diesen Text in andere Sprachen zu übertragen, wie der Beginn des sechsten Teiles zeigen mag:

"Old Georgie’s path an’ mine crossed more times’n I’m comfy mem’ryin’, an’ after I’m died, no sayin’ what that fangy devil won’t try an’ do to me . . . so gimme some mutton an’ I’ll tell you ‘bout our first meetin’." (249)

"Old Georgie" ist natürlich der Tod und für eine saftige Scheibe Hammelfleisch ist der Erzähler bereit, von seinem ersten Zusammentreffen mit diesem zu berichten.

Mitchell erwähnt in einem Interview, daß jeder der sechs Teile des Romans einem Modell folge, aber er enthüllt natürlich nicht alle Quellen:

"Each of the six sections has a model. My character Ewing was (pretty obviously) Melville, but with shorter sentences. Frobisher is Christopher Isherwood, especially in Lions and Shadows. Luisa Rey is any generic airport thriller. Cavendish is Cavendish — he has a short part in the "London" section of my first novel, Ghostwritten. The interview format for "Sonmi" I borrowed from gossip magazines in which a rather gushing hack interviews some celeb bigwig. Zachary owes (of course) a big debt to Riddley Walker, a novel by Russell Hoban, though some reviewers point to "Mad Max 3."" Cloud Atlas: An excerpt and an interview

Der Roman beginnt mit dem "Pacific Journal of Adam Ewing," einem Reisetagebuch aus dem 19. Jahrhundert (7. November 1850 bis 13. Januar 1851), das von dem Sohn des Verfassers veröffentlicht worden ist (wie sich aus einer Fußnote ergibt). Daß der puritanische Amerikaner Adam Ewing aus San Francisco, der Stadt des kurz zuvor stattgefundenen Goldrauschs, jener eingangs zitierten frischen Fußspur am Strand der neuseeländischen Chatham–Inseln folgt, wird ihn beinahe ins Verderben führen und den Leser in jenen Sumpf aus Gier, Korruption und Mordlust einführen, der das Buch wie ein roter Faden durchzieht.

Ewing, der im Auftrag einer Anwaltskanzlei eine Testamentsangelegenheit in New South Wales zu erledigen hatte (was den Pynchon–Fan natürlich aufhorchen läßt), lernt Dr. Goose kennen, einen exzentrischen Engländer, der auf einen Segler namens Nellie wartet, um seine Reise nach Sydney fortzusetzen. Ein Schelm, wer dabei an den Anfang von Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) denkt, aber wir lernen Dr. Goose kennen, als er gerade Zähne aus dem Sand ausgräbt, die von den Kannibalenmahlzeiten vergangener Zeiten übriggeblieben sind, um diese an einen Londoner Dentisten zu verkaufen. Und wie bei Conrad erweisen sich auch bei Mitchell die Europäer als weitaus barbarischer als die sogenannten "Wilden". Durch die Erzählstruktur bedingt bleibt Ewing auch das Schlußwort des Romans vorbehalten, ein flammender Protest gegen die (heutige) kapitalistische Weltordnung:

"(…) one fine day, a purely predatory world shall consume itself. Yes, the devil shall take the hindmost until the foremost is the hindmost. In an individual, selfishness uglifies the soul; for the human species, selfishness is extinction.
Is this the entropy written within our nature?" (528)

Im zweiten Erzählstrang des Romans, "Letters from Zedelghem", der im Jahr 1931 spielt, schreibt Robert Frobisher, junger moderner Komponist und (homosexueller) Sohn aus bester englischer Familie seinem Freund Rufus Sixsmith Briefe, in denen er von seinen Erlebnissen auf dem europäischen Kontinent berichtet, nachdem er Großbritannien wegen seiner Schulden eiligst verlassen musste. Frobisher, ein perfekter Hochstapler und Manipulator, aber total pleite, drängt sich dem halbblinden Komponisten Vyvyan Ayrs als Assistent auf, weil dieser infolge seiner Syphylis nicht mehr komponieren kann.

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© Otto Sell — Friday, August 19, 2005
Last update Saturday, November 24, 2012
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