Episode 14 (151-185) (92-113)

Immer noch Freitag, der 22. Dezember 1944
Film und Wirklichkeit, Der Kinderofen, Didus ineptis

Oktopus Grigori

Film und Wirklichkeit

Katje Borgesius, aus Holland angekommen, wird mit dem Zweck gefilmt, den Oktopus Grigori auf sie zu konditionieren (Part 2), damit Slothrop sie später vor diesem «retten» kann, ein simpler Trick, um die Agentin so unauffällig wie möglich in Slothrops Nähe, d.h. in sein Bett zu bekommen.

Eine meisterhafte, für den Roman zentrale zirkuläre Episode: der am Anfang gedrehte Film wird nun abgespielt, nur das jetzt statt des unsichtbaren Kameramannes der Oktopus Grigori der Betrachter ist. Eigentlich ist diese Szene eine echte Herausforderung für jeden Filmemacher und vielleicht ein Argument gegen die (bis jetzt allerdings unwiderlegte) Behauptung, man könne den Roman nicht adäquat verfilmen. Während der Erzähler vordergründig von dem begeisterten Kamermann spricht, spricht und zelebriert Pynchon die Technik der Verschachtelung im Sinne von Todorovs Meistersatz:

Derjenige, der den Mann, der den Pfahl, der auf der Brücke, der auf dem Weg, der nach Worms führt, liegt, steht, umgeworfen hat, anzeigt, bekommt eine Belohnung.
(Tzvetan Todorov zitiert von John Barth),
wobei jedes Nomen einer Figur entspricht und jeder eingeführte Charakter eine neue Geschichte, einen dem Nomen zugeordneten Nebensatz, erzwingt. In Episode 52 wird sich Katje den Film ansehen (p. 533) und erinnern:
“(…) the camera follows as she moves deliberately nowhere longlegged about the rooms, an adolescent wideness and hunching to the shoulders, her hair not bluntly Dutch at all, but secured in a modish upsweep with an old, tarnished silver crown (…).” (92, repeated 113)

“The cameraman is pleased at the unexpected effect of so much flowing cape, particularly when Katje passes before a window and the rainlight coming through changes it for a few brief unshutterings to murky glass, charcoal-saturated, antique and weather-worn, frock, face, hair, hands, slender calves all gone to glass and glazing, for the celluloid instant poised—the translucent guardian of a rainfall shaken through all day by rocket blasts near and far, downward, dark and ruinous behind her the ground which, for the frames’ passage, defines her.” (94)

Der Kinderofen

Die Episode vereint mehrere Rückblenden, die für den Roman wichtig sind: von Katjes Gedanken und Erinnerungen (während sie gefilmt wird) aus geht es nach Holland zu der Raketenbatterie in der Nähe von Zandvoort und Schevenigen zu SS-Hauptmann Weissmann/Blicero und Gottfried, von wo sie geflohen ist, was sie Prentice per V-2 im vierten Kapitel mitgeteilt hatte, um von einem U-Boot abgeholt zu werden.

Mit dem für die bemannte V-2 vorgesehenen Piloten, seinem Lustknaben Gottfried, und Katje Borgesius spielt der Kommandant der Abschußbasis eine pervers umgedrehte Version von Hänsel und Gretel durch, bei der die Rakete den Ofen verkörpert, es für Gottfried also kein Entkommen gibt, auch wenn dieser sich an die Illusion klammert, daß Märchen doch immer gut ausgehen. Pynchon dekonstruiert das Märchenschema so, daß zwar nicht die Pole gut (die Kinder) und böse (die Hexe) vertauscht werden, am Ende jedoch ein anderes Ergebnis herauskommt. Nicht die Hexe verbrennt in dieser Version in faschistischer Ästhetik, sondern Hänsel:

“(…) inside herself, enclosed in the soignée surface of dear fabric and dead cells, she is corruption and ashes, she belongs in a way none of them can guess cruelly to the Oven . . . Der Kinderofen . . . (…) of Captain Blicero (…).” (94)
thanks to Douglas Lannark and Marca

Die Nazis, so Denis Crowley unter Berufung Walter Benjamins sowie Horkeimer und Adorno, in seinem Aufsatz “Before the Oven”: Aesthetics and Politics in Gravity’s Rainbow, (Pynchon Notes 42-43 (1998), sahen den Staat als Gesamtkunstwerk, die Ästhetisierung der Politik mit dem Anspruch auf die alleinige Wahrheit und der Nostalgie nach einer feudalen Vergangenheit der festen Werte war das führende Prinzip hinter der faschistischen Ideologie.

“As in Adorno and Horkheimer’s diagnosis of modernity in Dialectic of Enlightenment, the irrationality of fascism is read as the inevitable result of rational positivism, and the threat of it’s recurrence is always latent.”
(Crowley, p. 189)
Auch eine vordergründig entpolitisierte und nur «schöne» Kunst kann propagandistisch wirken, wenn die mimetische Botschaft von der schönen heilen Welt zur Durchhalteparole wird, man es sich in der „Schicksalgemeinschaft” vor dem Ofen gemütlich macht, während draußen alles in Scherben fällt:
“. . . though it is never discussed among them openly, it would seem that Katje, Gottfried and Captain Blicero have agreed in this Northern and ancient form, one they all know and are comfortable with—the strayed children, the wood-wife in the edible house, the captivity, the fattening, the Oven—shall be their preserving routine, their shelter, against what outside none of them can bear—the War, the absolute rule of chance, their own pitiable contingency here, in the midst. . . .” (96)

Weissmann, der „…in seinem Köfferchen ein Exemplar der Duineser Elegien bei sich trug, die gerade erschienen waren,” (162) als er sich nach Deutsch–Südwest, dem heutigen Namibia, einschiffte, ist die schillernste und umstrittenste Figur des Romans.
Er hat den Hererojungen Enzian, Halbbruder des Russen Tschitscherin, aus Afrika mit nach Deutschland gebracht. Weissmann, dessen SS-Codename Blicero ist, was ethymologisch ‘der Tod’ bedeutet, taucht bereits in Pynchons Roman V. von 1963 auf, und zwar im 9. Kapitel: “Mondaugen’s Story,” das von den Verbrechen der Deutschen im heutigen Namibia berichtet, wo von 1904 bis 1907 die Hereros beinahe ausgerottet wurden, eine Art Generalprobe für den späteren Holocaust an den Juden.

Nach V. müßte sich Weissmann schon 1922 in Deutsch-Südwest befunden haben, die Duineser Elegien (siehe Episode 1) erschienen aber erst Ende März 1923. Der Name, den Weissmann dem Hererojungen gab, den er mit nach Deutschland nahm, ist aus Rilkes Neunter Elegie, von Pynchon im Roman in deutscher Sprache zitiert:

„Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern ein erworbenes Wort, den gelben und blaun Enzian.”
(101, Rilke, p. 39 )
We make Ndjambi Karunga now, omuhona . . . a whisper, across the burning thorn branches where the German conjures away energies present outside the firelight with his slender book. He looks up in alarm. The boy wants to fuck, but he is using the Herero name of God (…) to the boy Ndjambi Karunga is what happens when they couple, that’s all; God is creator and destroyer, sun and darkness, all sets of opposites brought together, including black and white, male and female . . . and he becomes, in his innocence, Ndjambi Karunga’s child (as are all his preterite clan, relentlessly, beyond their own history) here underneath the European’s sweat, ribs, gut- muscles, cock (the boy’s own muscles staying fiercely tight for what seems hours, as if he intends to kill, but not a word, only the long clonic, thick slices of night that pass over the bodies). (100)

Didus ineptis

Außer über Weissmanns Vorgeschichte berichtet diese Episode noch von Katjes Vorfahr Frans Van der Groov, der mit seinen Schweinen die flugunfähigen Dronten auf der Insel Mauritius ausrottete, obwohl er und seine Mitkolonisten nichts waren als
„… ein wütender Haufen von Verlierern, die eine göttlich auserwählter Rasse spielten. Ihre Spekulation, die Kolonie, lag schon im Sterben – genau wie die Ebenholzwälder, die sie von der Haut der Insel schälten, genau wie auch das arme Wesen, das sie restlos von der Erde tilgten. Bis 1681 würde Didus ineptis ausgerottet sein, bis 1710 der letzte Siedler Mauritius verlassen haben (…) Wenn sie jedoch auserwählt waren, nach Mauritius zu kommen, warum war ihnen dann bestimmt, zu scheitern und die Insel wieder aufzugeben? War es eine Gnadenwahl, oder war es die Verdammung? Waren sie Auserwählte oder Übergangene, verurteilt wie die Dronten?” (178-79)

“Are they Elect, or are they Preterite, and doomed as the dodoes?” (110)

Didus ineptis hat dadurch eine traurige Berühmtheit erlangt, daß er die erste Tierart ist, von der wir wissen, daß ganz allein der Mensch sie ausgerottet hat.
Während der deutsche Holocaust an den Juden im Roman größtenteils ausgeblendet bleibt, weil die meisten der Charaktere keine reale Kenntnis vom Ausmaß der Naziverbrechen gehabt haben konnten, stellt Pynchon durch die Erwähnung der Verbrechen der deutschen wie der niederländischen Kolonialherren diese, so unterschiedlich sie auch sind, in einen Zusammenhang. Ich vermute, daß sich Pynchon wegen der historischen Einzigartigkeit der Shoah gescheut hat, sich im Roman direkt auf diese zu beziehen, etwa durch Weissmann, beinahe die einzige Romanfigur, die Kenntnis von Auschwitz gehabt haben müßte.

Die „Botschaft” aber, auf den Gesamtzusammenhang des Romans bezogen, scheint mir zu sein, daß wir, nachdem wir einmal damit angefangen sind, nicht nur ganze Tierarten vom Erdboden zu vertilgen oder uns unangenehme Volkssgruppen zu massakrieren, mittlerweile über die Mittel verfügen, uns selbst als Gattung sowie alles Leben auf der Erde zu vernichten.

Max P. Häring: Erlösung der Dronten

Episode 13 Episode 15

I Beyond the Zero II Un Perm’ au Casino Hermann Goering III In the Zone IV The Counterforce

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Professor Irwin Corey Accepts the National Book Award for Thomas Pynchon
Charles Hollander: Pynchon’s Inferno
Douglas Kløvedal Lannark: Paperware to Vaporware, The Nativity of Tyrone Slothrop
Douglas Kløvedal Lannark: Mason & Dixon: Astrological Review

© Otto Sell – Monday, June 26, 2000
Last update Monday, February 13, 2006

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